Re: 03.01.2016

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wolfgang-doebeling
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KICKS ON 45 & 33

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weilsteinD.h. Du empfindest die letzten zehn Jahre als „aufregend“? Du kannst doch nicht leugnen, dass Du, Interesse hin oder her, die Jahre ’77 – ’79 als deutlich aufregender bezeichnen würdest als die Jahre 2013-2015.

Das Aufregende an der tumultuarischen Pop-Evolution der genannte Zeitspanne war ihre tribalistische Zuspitzung. Die Musik war Ausdruck davon, nicht weil sie neu war (Punk, Rockabilly, Ska, Modpop, etc. wurden nicht neu erfunden, „nur“ neu erlebt, das aber ungeheuer intensiv), sondern weil sie der Kitt war, der die Tribes zusammenhielt. Natürlich war das höllisch aufregend, doch gibt es schon lange keine Identifikation stiftenden Tribes mehr, allenfalls traurige Reste davon, die bei sporadischen Treffen in gemeinsamer Erinnerung an gloriose Zeiten schwelgen. Sei ihnen gegönnt.

Es ist doch aber nicht so, daß es außerhalb solcher heißen Phasen wie der genannten (oder 1954-58, 1963-66, 1994-97…) nichts Aufregendes zu entdecken gäbe. Ich habe eigentlich jedes Musikjahr als aufregend empfunden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Wenn die gerade herrschende Popkultur nur mediokres Zeug abwirft, muß man in den Untergrund, an die Peripherie. Dort wird man immer fündig, denn es gibt doch zu jeder Zeit großartige Musiker, unabhängig davon, ob sie Massen erreichen oder Minderheiten. Das mitreißende, gemeinschaftsgeistige Moment mag in manchen Phasen absent sein (die frühen 70er, die späten 80er, etc.), doch konnte man auch in so „mauen“, an der Oberfläche ereignisarmen Zeiten hunderte toller Platten finden, sofern man wach war und sich die „Mühe“ machte, danach zu suchen.

So wie heute: die Charts sind randvoll mit Müll, der Zeitgeist steht auf Beliebigkeit, doch ist es falsch, deshalb das Interesse an neuer Musik zu verlieren, in Lethargie zu verfallen und Zuflucht bei geliebten Klassikern zu suchen. And make no mistake: natürlich ist es in mehrfacher Hinsicht neue Musik, die in der Faves-Sendung lief. Neu, weil von meist jungen Künstlern gemacht, die in ihre Musik packen, was für sie akut ist (und für den Hörer so akut werden kann). Neu aber auch, weil diese Musik von Ideen lebt, von Distinktionen, von Finessen, die es genau so eben noch nicht gab. Das Rad muss nicht mehr erfunden werden, die Faszination liegt oft im Detail, in der Intensität der Hörerfahrung. Um nur mal die Spitze meiner Faves on 45 zu bemühen: „Downtown Tokyo“ klingt fabelhaft frisch, unbändig und anders. Bezüge gibt es zuhauf, die gab es immer, denn kein Musikstil fiel je vom Himmel, doch bietet auch Kathryn Joseph eine Menge Andersartigkeit, becirct auf so eigene Weise, daß nur ein Depp daran vorbeihören kann. Dasselbe gilt, mehr oder weniger, für alle gespielten Singles, selbst für Paul Orwell, der ja eben kein Plagiator ist, nur weil sein Herz für eine zeitlich eingrenzbare Pop-Epoche schlägt und er seine Tracks unter gewissen ästhetischen Prämissen entstehen läßt. Auch und gerade Orwells Platten fügen den bekannten Strukturen und Klanggefügen seiner Poptradition Neues hinzu, nicht für musikalisch Unterbelichtete, nicht an der Oberfläche, aber sehr wohl darunter.

Kurzum, es gibt zu jeder Zeit Aufregendes zu entdecken. In manchen Epochen lag das offen zutage (Elvis, Stones, Pistols, etc.), in anderen mußte danach geforscht werden. Heute muß man eben wieder suchen. In den modernen Zeiten globaler Nivellierung und Marginalisierung durch das Internet kann das gar nicht anders sein. Fazit: Solange man die jeweils massenkompatible Musik zur Kenntnis nimmt, ihre Besonderheiten und Charakteristika dem eigenen Musikverstand hinzufügt (also nicht die Ohren davor verschließt, obwohl sie nicht „gefällt“), steht dem Entdeckerdrang jenseits von Trampelpfaden nichts entgegen. Fündig wird man auf jeden Fall.

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