Re: Helene Fischer

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go1
Gang of One

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Bevor jemand glaubt, ich hätte hier etwas Originelles gesagt, gebe ich mal die Urheber der Unterscheidung an, die ich einfordere:

Heinz SteinertHorkheimer und Adorno unterscheiden genau zwischen Kunst, die auch verkauft wird, das aber in der Produktion reflektiert (Beethoven verwenden sie als Beispiel), und Künsten, die von vornherein nach Kriterien der Verkäuflichkeit produziert werden.

lathoLetzten Endes sinnlos, denn wie willst du bestimmen, ob ein Track auf Verkauf hin produziert wurde oder irgendwelchen ästhetischen Überlegungen folgt? Das kannst du doch nur für dich selber festlegen, von „hinten“, vom fertigen Produkt her. Und da bist du bei der normalen Pop-Kritik. Du kannst – wie ich – Helene Fischer und ihrem Team vorwerfen, dass ihre fertigen Tracks zu sehr nach massenkompatibler Produktion klingen, ob das auch wirklich dahinter steckt, weißt du nicht.

Ach komm, der Schluss vom Produkt auf den Produktionsprozess liegt wirklich nahe. Und dass es im Einzelfall nur Indizien gibt und keine Beweise, macht die Unterscheidung nicht sinnlos. Sie benennt das Spannungsfeld, in dem in unserer Gesellschaft künstlerisch produziert wird und jeder Künstler sich bewegen muss. Dass die Popkritik vom Einzelnen, vom Musikstück oder Auftritt, ausgehen muss, ist eh klar.

nail75Du konstruierst Gegensätze, die so nicht existieren. Ich könnte auch sagen: deine dialektische Herangehensweise eignet sich nicht, um das Phänomen der kommerziellen Popmusik zu erfassen. Dein Einwand „Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob der Verkaufszweck die künstlerische Produktion selbst bestimmt oder ob diese rein ästhetischen Kriterien folgt“ hört sich theoretisch gut an, arbeitet aber mit einer falschen Gegensätzlichkeit, die in der Praxis so nicht existiert.

Gerade weil sich in der Praxis verschiedene Motive vermischen können, braucht man klare Unterscheidungen für Analyse und Selbstreflexion. Wenn es Dir hilft, dann stell Dir halt ein Kontinuum mit zwei Polen vor, mit Neil Young nahe am einen Pol und Helene Fischer nahe am anderen.

nail75Übrigens ist auch die dahinterstehende Wertung sehr einseitig und meines Erachtens unzutreffend. Keineswegs tut es allen Musikern gut, in allem „rein ästhetischen Kriterien“ zu folgen. Viele wünschen sich gerne externe Beratung, die sie zum konzentrierten und konzisen Arbeiten zwingt und die sie von künstlerischen Fehlentscheidungen abhält. Produzenten und Manager sind keine Agenten eines bösen kapitalistischen Systems, sondern fungieren häufig als Berater. Die soziale Komponente des Musikmachens kannst du mit diesem Ansatz leider nicht erfassen.

Dieser Einwand ist offensichtlich widersprüchlich: In Deiner Konstruktion zwingen Produzenten und Manager die Musiker zum konzentrierten und konzisen Arbeiten und halten sie von künstlerischen Fehlentscheidungen ab. Das heißt, sie tragen dazu bei, dass die Musikproduktion ästhetischen Kriterien folgt. Und das soll dafür sprechen, dass es Musikern nicht gut tue, in allem rein ästhetischen Kriterien zu folgen?
Der letzte Satz, der mit der „sozialen Komponente“, bezeugt übrigens nur Dein schlechtes Gedächtnis: Ich habe nämlich hier im Forum ausführlich erklärt, dass ich die Kunstproduktion für eine kollektive Leistung halte, in der auch Musen und Manager ihre Rolle spielen, nicht nur die Musiker. An dieser Diskussion hast Du Dich selbst beteiligt. Deine Behauptung ist nicht nur falsch; Du hättest es auch besser wissen können.

nail75Abgesehen davon, dass das legitim ist, habe ich zu keinem Zeitpunkt ein „Loblied auf die Professionalität“ angestimmt, sondern lediglich in Ansätzen beschrieben, warum die Professionalisierung erfolgt ist.

Ja, aber was hat das mit dem Thema zu tun oder mit dem, was ich geschrieben habe? Ich sehe keinen Zusammenhang.

nail75Das bestreite ich vollständig.

Sag ich doch: Du gehst über offensichtliche Unterschiede hinweg. Das tust Du auch, wenn Du bestreitest, dass die Karriere von Helene Fischer grundsätzlich anders funktioniert als die von Peter Brötzmann oder Neil Young. Als Argument kannst Du aber nur formelle, oberflächliche Gemeinsamkeiten anführen (alle tourenden Musiker beziehen Einnahmen aus Ticketverkäufen und dergleichen).

nail75Nein, der Satz ist vollkommen richtig, denn er geht über diese Unterschiede nicht hinweg. Zentral für die Popmusik ist ja gerade, dass sie auf der Möglichkeit beruht, dem Publikum eine Ware in Form von Tonträgern oder Konzerten zu verkaufen. Wir hatten ja schon mal über die Voraussetzungen der Popmusik gesprochen: es handelt sich um eine Massenkultur und alles, was mit „Masse“ zu tun hat, zwingt automatisch zur Professionalisierung. Ob das ein kleines Label ist oder ein großer Musikkonzern macht übrigens keinen Unterschied. Ökonomische Zwänge gibt es überall, mir ging es um eine Beschreibung, nicht um Kritik.

Der Fehler Deines Arguments besteht darin, dass Du Bedingungen mit Ursachen verwechselst. Dass dem Publikum Waren verkauft werden, ist nur eine Bedingung. Darauf folgt nie im Leben, dass es allen Künstlern auch genau darauf ankomme (ein Produkt zu verkaufen). Jeder ist den ökonomischen Zwängen ausgesetzt, jeder muss sehen, dass irgendwie Geld ins Haus kommt; aber das zwingt einen nicht dazu, das auch noch gut zu finden und die Bedingung als Chance zu ergreifen. Wenn man künstlerische Entscheidungen davon abhängig macht, was sich wahrscheinlich verkaufen oder nicht verkaufen wird, dann hat man sich den Marktzwang in den eigenen Kopf geholt; das ist keine automatische Wirkung der ökonomischen Zwänge.

bullschuetzIch kann aber nicht anders, als nochmal darauf hinzuweisen, dass ich deine Sicht da ausgesprochen holzschnittartig und tendenziell ideologiegeleitet finde. Ums mal marxistisch auszudrücken: Wer der Popmusik gerecht werden möchte, sollte das Verhältnis zwischen Kunst und Ware dialektisch betrachten, statt manichäisch den bösen Warencharakter gegen die gute Kunst in Stellung zu bringen. Manchmal ist Popmusik genau deshalb so großartig: weil sie mitten in diesem Spannungsfeld entsteht zwischen der Produktion massenwirksamer Ware und dem Ausleben ästhetischen Eigenwillens. Wer dieses Spannungsfeld auflöste, entzöge dieser Musik den Boden (Beispiel Motown). Anders ausgedrückt: Ich vermute, ohne Kapitalismus gäbe es keinen Pop.

Was Motown angeht, denke ich, dass Du die Art und Weise, wie dort Talente geformt und genutzt worden sind, zu positiv siehst. Und die tatsächlichen Leistungen schreibst Du meines Erachtens fälschlich dem Profitmotiv zu. Unter anderen gesellschaftlichen Umständen hätte sich eine solche Talentschmiede auch anders organisieren lassen. Aber das ist ein anderer Schnack; die Fortsetzung dieser Diskussion würde ich gerne vertagen. Prinzipiell rennst Du eine offene Tür bei mir ein. Künstler, die ihren ästhetischen Eigenwillen bei der Produktion massenwirksamer Waren ausleben, von Jacques Offenbach bis zu den Pet Shop Boys, finde ich sympathisch (Stichwort: „Subversion“). Das hat aber wirklich nichts mit dem Thema dieses Threads zu tun. Und für eine „dialektische Betrachtung“ bin ich natürlich immer zu haben. Nur: Was heißt „Dialektik“? Doch wohl „Einheit der Gegensätze“. Von einer dialektischen Betrachtung kann keine Rede sein, wenn die Gegensätze, die da zusammen auftreten, nicht klar benannt werden. Außerdem hatte ich nicht vor, hier dialektische Untersuchungen anzustellen; ich habe nur nail75 widersprochen, der von den Gegensätzen nichts mehr wissen will.

Aber damit ’s jetzt nicht zu abstrakt wird, hier ein Zitat zur Dialektik der Kunst:

Christine Resch und Heinz SteinertNach ihren eigenen Gesetzen, indem sie alle Möglichkeiten des Gestaltens mit ihrem jeweiligen Material (Instrumenten, Tönen, Strukturen; Farben, Linien, Genres; Sprache und Formen, usw.) durcharbeiten will, widersetzt sie (die Kunst) sich der reinen Vernutzung. Nicht jedes Gemälde macht sich gleich gut als Dekor in der Schalterhalle, nicht jede Musik als Abschluss einer Versammlung. In der Parole von „l’art pour l’art“ selbstbewusst geworden, erzeugt der Eigensinn von Kunst eine eigene Welt, eine Gegenwelt, eine Ahnung des anderen, des Möglichen. In Kulturindustrie wird dieser Bereich von Befreiung eingezogen, wird Kultur restlos funktionalisiert.
Das geschieht Kultur aber nicht von außen, sondern es setzt sich eine der Gesetzmäßigkeiten, von denen sie bestimmt wird, durch: Produktion nach den Imperativen der Warenförmigkeit. Die Institutionen der Kunst, der Ausstellungs- oder Konzertbetrieb, das Verlagswesen oder die Wissenschaft, organisieren sich entsprechend. Der einzelne Künstler steckt in derselben Dialektik: Er wehrt sich gegen den Zugriff, will aber von seiner Kunst leben, braucht daher ein Publikum und einen Verkauf. Er wehrt sich dagegen, gibt dem Druck aber auch nach. Er macht Erfindungen in der Auseinandersetzung mit Aufträgen, Zensur und Markt, kann sich aber nicht ganz entziehen, will das auch nicht unbedingt. Manche arbeiten diesen Rahmenbedingungen ohne Widerstand zu, produzieren in ihnen, was gut ankommt.
Kunst geschieht im Rahmen der kulturindustriellen Gegebenheiten und in mehr oder weniger widerständiger Auseinandersetzung mit ihnen.

Und das führt wieder zum Thema zurück:

bullschuetzWas Helene Fischer betrifft, teile ich hingegen Deine Einschätzung: Hier gibt es eben kein Spannungsverhältnis mehr zwischen Warenproduktion und Kunstwillen…

Genau. Sondern: Widerstandslose Anpassung an die „kulturindustriellen Gegebenheiten“. Und das merkt man Musik und Auftritt eben an.

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To Hell with Poverty