Re: "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?

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gruenschnabel

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gypsy tail windIch gehe noch einen Schritt weiter und denke, der Antrieb dessen, der ein Werk schafft, ist nicht hinreichend, um das Resultät eindeutig zu prägen. Das hatten wir ja oben schon angetönt: die Möglichkeit, dass Meys Text vielschichtiger sein könnte als von ihm selbst intendiert; allgemein die Möglichkeit, dass ein Werk breiteres – oder auch anderes, „falsches“ – Publikum findet als erwartet.

Auch nehme ich Aussagen von Künstlern über ihr Werk nie für bare Münze bzw. ohne die Möglichkeit im Hinterkopf zu haben, dass der Künstler selbst sein Werk nicht vollumfänglich begreifen kann (so er es denn in seiner Aussagbe überhaupt tut – und wenn ein Künstler über sein Werk lügt, macht ihn das noch längst nicht „unaufrichtig“). Jede Aussage kann auf verschiedene Weisen verstanden werden – und richtig: es braucht auch stets Sender und Empfänger, insofern Kunst einen kommunikativen Charakter haben soll (kann auch sein, dass ich in die Berge gehe und was installiere, was nie einer sehen wird – aber dann bin wohl irgendwie ich selbst der Empfänger, einen Antrieb muss ich ja haben, so etwas zu tun).

Da bin ich ganz nah bei dir. Es gibt in Reich-Ranickis Biographie diese Passage, in welcher er über eine Begegnung mit Anna Seghers und das gemeinsame Gespräch über ihren Roman „Das siebte Kreuz“ schreibt:
„Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt (…) gemächlich über ihre Figuren schwatzte, (…) hat den Roman (…) überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Rafinesse der hier angewandten künstlerischen Mittel, von der Virtuosität der Komposition. (…)
Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind.“

Ob es nun wirklich so „schlimm“ um die meisten Autoren bestellt ist, kann ich natürlich überhaupt nicht einschätzen. Aber diese Art der Betrachtung überzeugt mich. Ein schöner Effekt liegt darin, dass man nicht in Versuchung gerät, diese elende Frage nach der „Intention“ des Künstlers zu vertiefen. Als ich das für mich begriffen habe, verspürte ich eine geradezu befreiende Wirkung: Kunst war damit kein Acker mehr, den man auf der Suche nach dem einen verborgenen Schlüssel mühsam durchpflügen musste – und finden konnte man den ja ohnehin nicht, sondern es waren immer Dritte, die einem solche Schlüssel als die jeweils vermeintlich richtigen andrehen wollten. Oder aber es wurden irgendwelche Aussagen der Künstler zu solchen Schlüsseln erklärt, was mich ebenfalls nie richtig überzeugt hat.

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