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Stormy MondaySehr schön beschrieben, sorbistan. Sooo arg viel anders war das West- Wort auch nicht im Gebrauch. Obwohl, anders als Hal das weiter oben schreibt, nicht Mitte/Ende der 70-er „handgemacht“ erstmals auftauchte. Ich kenne das eher viel später, mit dem Aufkommen von Elektronika. „Ruck Zuck“ von Kraftwerk wäre nicht so belabelt worden.
Kraftwerk z.B. hatte ich ja auch auf dem Schirm, wenn auch viel später, und es passte in meine Schublade. Aber die wurden bei der Ignoranz, mit der wir den Begriff „handgemacht“ nutzten, einfach ausgeblendet.
In den für uns interessanten DDR-Radiosendungen gab es ja diese 50/50-Regel, die auch konsequent durchgezogen wurde. Unabhängig von der verpönten DDR-Musik (für Renft zB war ich zu jung) bargen für mich allein diese Sendungen das Potential musikalischer Entdeckungen. Da wurde blind alles mitgeschnitten. Also gesammelt. Wenn dort oder unter Freunden argumentiert wurde, BRD-Bands würden nur englische-sprachige Musik machen, hielten wir mit Lindenberg dagegen. Lindenberg war der Nenner (später auch BAP), auf den sich bei aller Oberflächlichkeit das Stones-affine Publikum in der DDR unmissverständlich einigen konnte. Das war unser Held.
1983 machten wir zu zweit als „Ehrenamtliche Musikredakteure“ eine dreistündige Sendung beim DDR-Jugendradio. Einzuschicken war ein Bewerbungsschreiben sowie eine Liste zu je 25 Titeln Ost / West. Als wir dort ankamen, wurde unsere Liste zerlegt: Westtitel durften wegen des textlichen Inhaltes nicht gespielt werden, aus der Ost-Liste wurden u.a. Holger Biege (war da schon drüben) und Hansi Biebl (laufender Ausreiseantrag) gestrichen. Als wir das politische Vorgespräch (wir waren schließlich live auf Sendung und der Klassenfeind hört mit) mit Marianne Oppel absolvierten, platzte Olaf Zimmermann herein, schob die „Thriller“ mit den Worten „aus Westberlin mitgebracht“ auf den Tisch. Das ist eine Szene, die ich nicht vergessen kann, weil sie für mich etwas Unmögliches, völlig Absurdes beinhaltet. Ich habe Zimmermann im Zuge von „12 Zoll“ und der darin enthaltenen Geschichte kontaktiert, er konnte sich leider nicht erinnern.
Wir sind wenige Monate später nach Ungarn getrampt – allein mit dem Ziel, eine Jeanshose und eine Platte zu kaufen. Es brennt sich ein, wenn du dich plötzlich einer nie erahnten Menge von Scheiben gegenübersiehst, auf denen Namen stehen, von denen du noch nie etwas gehört hast, wenn du dir sicher bist, das HEUTE ist für lange, lange Zeit das letzte Mal … und wenn du dich entscheiden musst. Ohne Westgeld und mit staatlicherseits begrenztem Umtausch war nicht mehr möglich. Kein Mittagessen – nur eine Unterkunft, paar Palatschinken, eine Platte, eine Hose, eine Pepsi in der ersten Video-Diskothek deines Lebens. Und nach 11 statt 14 Tagen Sachen packen und zurück auf die Straße mit einer Platte unterm Arm. Und wenn dich dann dein Nachbar fragt, warum du nicht Depeche Mode gekauft hast, hältst du ihm die „Pictures at Eleven“ unter die Nase und sagst: „Handgemacht“.
Ich möchte damit sagen, dass der hiesige Diskurs auch für mich ein interessanter und geradezu erweckender ist. Ich weiß nicht, ob es übergriffig klingt, aber im Gegensatz zu vielen anderen Teilnehmern dieser Diskussion bin ich der Überzeugung, dass dieser Begriff bei mir (und diese Vermutung habe ich auch zu puma geäußert) eine tiefere Emotionalität erfahren hat. Und das hat ganz gewiss etwas mit meiner DDR-Vergangenheit zu tun.
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