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bullschuetzSpannende Ausführungen und Spekulationen! Beim Mitlesen bin ich ins Assoziieren gekommen: handgemacht – hand made – Handarbeit – da schwingt auch das Gegenteil von industrieller Fertigung, Ware von der Stange, gesichtsloser Massenproduktion mit. Gutes altes Handwerk gegen Hi-Tech-Moderne.
Aber auch ich hätte hier gerne nochmal sorbistan mit dabei: Was genau verbandet Ihr in der DDR mit dem Etikett „handgemachte Musik“, was schwang da für Euch mit?
Ich bin weit davon entfernt, hier Thesen oder gar Definitionen aufzustellen. Wie erwähnt, war „handgemachte Musik“ für mich (und sehr wahrscheinlich auch für andere) zu DDR-Zeiten ein loser Begriff, der eher den eigenen Musikgeschmack gegen andere abgrenzte. Gewissermaßen ein Totschlagargument, mit dem man seine Vorlieben oder Hörgewohnheiten verteidigte. Die Emotionalität liegt imA in der musikalischen „Sozialisation“ begründet, zu der jeder eigene Erfahrungen gemacht hat.
Diese „Sozialisation“ erfolgte für mich durch zwei Wege: Zufall und Interaktion. Musikalisch war ich völlig unbelastet. Jungfräulich, da meine Eltern Schlager und Heino hörten, sich ein Radio im Intershop kauften und auf diesem mit Mühe eine Sendung mit „Lord Knud“ fanden, die dann am Wochenende zum Frühstück lief. Mein erster Schnitt erfolgte mit einem „Rockpalast“. Ich saß als 12-jähriger vor dem Fernseher, der dank eines fetten Hochdruckgebietes an diesem Tag im wilden Sorbien den Empfang des ZDF möglich machte. Meat Loaf! Meine Eltern waren in ihren Sesseln eingeschlafen und ich zog mir dieses Konzert rein. Das war meine Sozialisation. Ein Jahr später kaufte ich mir von meinem Jugendweihe-Geld ein Kassettengerät – für 800 Mark, das Doppelte des Monatsverdienstes meiner Mutter. Von meiner Cousine überspielte ich mir am gleichen Abend drei Tapes (von denen jedes ja auch 20 Mark kostete) – ein wildes Durcheinander: Frank Zander, Purple, Suzi Quatro, Pussycat. Hauptsache West.
Mein Vater stellte sich dann zufällig an einer langen Menschenschlange an, ohne zu wissen, was es da gibt. Es gab etwas und das war Pink Floyds „Dark Side“. Der Besitz dieser Platte und jener eines der raren DDR-Lexika zum Thema „Rockmusik“ legitimierten mich als 11-Klässler, in der Schule einen Kurzvortrag zum Thema „Art Rock“ zu halten. Ein Vortrag, den ihr in diesem Forum gnadenlos verrissen hättet.
An dieser Schule hatte ich mit meinem Umzug ins Internat einen älteren Schüler kennengelernt, der nicht nur eine sensationelle Jeansjacke sein eigen nannte, sondern auch ein paar Beatles-Alben besaß. Zur gleichen Zeit lief auf Stimme der DDR eine Sendung, in der immer Freitagabend gegen 22 Uhr chronologisch ein Beatles-Titel gespielt wurde. Album für Album und ich habe jeden Abend darauf gewartet, diesen mitzuschneiden. Das war Anfang der 80er Jahre, wir tauschten uns untereinander aus und wenn ich heute an Bands wie LedZep, die Stones oder Heep denke, sind diese Gedanken nicht etwa mit einem Konzert, mit einem Gang in den nicht vorhandenen Schallplattenladen o.ä. verbunden. Nein, zu jeder Band gehört ein Gesicht, ein Typ, ein Ereignis. Was sich eingebrannt hat, weil es immer ein punktuelles war. Kein „ich mach jetzt mal“. Es ist einfach passiert.
Auf den von uns besuchten Diskotheken zog damals die NDW ein, DDR-Bands kupferten das ab, dann kamen Depeche Mode u.a. Bands, die meine Vorstellung von Musik torpedierten, weil sie nicht „handgemacht“ war. Das ist mit Sicherheit naiv, aber wo willst du dir eine fundierte Argumentation herholen, wenn du nichts zum Nachlesen, nichts zum vergleichenden Nachhören hast. Dieser Begriff hat sich in meinem Unterbewusstsein manifestiert, ohne Definition, allein in der Verknüpfung mit Bands wie den Stones oder LedZep, die für mein beschränktes Verständnis auf der Bühne standen, ohne die Knöpfe irgendwelcher Synthesizer zu drücken. Während ich putzigerweise Bands wie Tangerine Dream oder Pink Floyd in meine persönliche Schublade steckte, ließ ich DeMo einfach draußen. Und diese Schublade wurde mit Händen, Füßen und dem Totschlagargument „handgemacht“ verteidigt. Der Dresscode gehörte ja auch dazu. Ich sparte ein Jahr lang für eine Jeans aus dem Intershop, die entfernte Verwandtschaft aus Stuttgart schickte ´nen Parka, die Haare wurden lang. Das war für uns zeppelinesk oder das nach Außen gesandte Signal: Ich höre Stones und stehe dazu. Damit ist man sicherlich auch angeeckt, aber als „Protest“ würde ich es nicht bezeichnen wollen.
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