Re: Heinz Rudolf Kunze

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kritikersliebling

Registriert seit: 08.07.2002

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Über was würden Sie keine Lieder machen?
– Über offenem Feuer.

Heinz Rudolf Kunze – Macht Musik

Was willst du?
[…]
Ich brauch keinen Vorwurf
ich kenne mich selber
doch mein Neid auf meine Träume
wird von Nacht zu Nacht gelber
du bist nicht mehr die Lösung
du bist nicht mehr die Welt
wenn du jetzt nicht auf Rot setzt
bist du schmutzig wie Geld
Was willst Du
was

Kommentar:
Außer dem Schlussreim braucht man nichts weiter. Es ist schön wie HRK einem hier gleich den Wind aus den erwartungsvollen Segeln nimmt. Erwarten Sie nichts. Gefühlloser Gesang, selbst wenn es wütend sein sollte, es ist nur gespielt. Die Musik ist vielleicht sogar besser, als gedacht.

Sex mit Hitler
[…]
Heute hau'n wir auf die Pauke!
heute geh'n wir nicht nach Hause!
Herr Ober! Einmal Führersaft
und zehnmal Sklavenbrause!
Ich hatte Sex mit Hitler
[…]

Kommentar:
Nein, nein und nochmals nein. Das ist die größte Unverschämtheit überhaupt. Ein knalliger Refrain, der wenigstens musikalisch allen Anforderungen gerecht wird. Den Text der Strophe und die Musik dazu ist grottig. Nicht ironisch, nicht witzig, keine Parodie. Man muss glauben, es war wirklich so und es war schön. Hier kommt ein Song nicht über das Schlagerniveau von „Dein ist mein ganzes Herz“ hinaus und um den Hörer davon abzulenken versucht HRK es mit einer so bescheuerten Provokation. Das will niemand hören und schmälert jeden Kredit, den HRK mal bei mir hatte.

Leg nicht auf
Ich kann zuhör'n
bis die Balken sich biegen
und die Nacht vor Müdigkeit
aus dem Zifferblatt kippt
denn ich mag dich
und ich will bei dir liegen
doch für dich bin ich der Mann
der nur Schnee für dich schippt
Ich versteh dich
und ich könnt es dir beweisen
gib mir wenigstens die Chance
deine Schulter zu sein
was verlangst du
wir könnten gleich verreisen
und ich trag mich im Hotel
als dein Leibwächter ein

Leg nicht auf
hör mir zu
ich bin ganz genauso klein wie du
diese Stelle die dir immer wehtut kenn ich gut
leg nicht auf
laß dir Zeit
und ich leih dir eine Ewigkeit
Glück gibt's nicht im Sommerschlußverkauf
leg nicht auf

Du bist einsam
dein Mund ist schmal wie Klingen
alle Menschen sind allein
wenn ihr Wunsch nicht mehr schlägt
oh ich hab Sehnsucht
ich möchte für dich singen
dein verschwieg'ner Fährmann sein
und das Meer das dich trägt
Leg nicht auf
hab mich lieb
was du brauchst ist dieser Tagedieb
ich will hören wenn du aufwachst daß du leise lachst
leg nicht auf
sei gescheit
wir verschwinden aus der Dunkelheit
uns bleibt immer noch der Hoffnungslauf
leg nicht auf
Leg nicht auf
hör mir zu
ich bin ganz genauso klein wie du
diese Stelle die dir immer wehtut kenn ich gut
leg nicht auf
laß dir Zeit
und ich leih dir eine Ewigkeit
Glück gibt's nicht im Sommerschlußverkauf
leg nicht auf

Kommentar:
Hier gibt es nichts zu meckern. HRK ist mit Herz und Inbrunst bei der Sache und findet Worte, die man sich sagen kann, malt Bilder, die gut aussehen. Ein magischer Moment
Im Refrain, „leg nicht auf, lass dir Zeit“. Die Stimme überschlägt sich und ich starre das Telefon an. Das übernehme ich komplett in meine Biografie. Zwölf Sterne viele Blitze. Ertappt.

Fetter alter Hippie
[…]
Parklückenkrieger Nabeldreckbohrer
[…]
im Bauch des Wals im Tran der Tage
[…]
Sozialstaatswallach Mitbestimmungs-Model
glotzt aus dem Reihenhaus rennst vor die Tür
glotzt durch den Briefschlitz wieder rein
FETTER ALTER HIPPIE
Deine Kinder mit den Messerschnittfrisuren
spielen Luftanhalten im Aquarium
dein Bobtail ist Rassist und blasenkrank
dein Anrufbeantworter weiß zuviel
[…]
ihre Selbsthäkeldeckchen überleben dich um Längen
[…]
dein Fernseher war ihr Leichenschauhaus
[..]
Wahlurnenzombie Mehrheitsbeschaffungskrimineller
[…]

Kommentar:
Swordfishtrombones? Wie viel Wörter kann man beim Blättern in einem Wörterbuch zusammen legen. Wie viel Doors-Orgel verträgt ein Song, der nur der Selbstdarstellung dient. Wer weiß wen er meint. Ich habe einen Verdacht, den ich aber nicht äußere. Ich rufe ihn mal an. Sollte es nicht personenbezogen sein, ist es einfach langweilig.

Eigentlich nein
[…]
wenn dich sechsunddreißig Jahre lang kein Mensch versteht
obwohl du sehr verbindlich weißt was vor sich geht

Ich mag dich!
Wer bin ich?
Will ich hier sein?
eigentlich nein eigentlich nein eigentlich nein
eigentlich nein

Das Gefühl daß du immer schon bestohlen bist
obwohl du täglich alles zählst und nichts vermißt
[…]
BLEICHGESICHTER UNTERTANER COWBOY BRENNT INDIANER
BLEICHGESICHTER PULVERFUMMLER FEIGE SCHLACHTENBUMMLER
BLEICHGESICHTER DURCHSCHNITTSBÜRGER FLEISCHERHAKENWÜRGER
BLEICHGESICHTER FLUCHVERGESSER AAS-UND-SCHANDE-FRESSER
NICHTS REIMT SICH IM DEUTSCHEN AUF MENSCH
[…]
Bleibst DU gern
im Großen
und Ganzen klein?
Eigentlich nein eigentlich nein eigentlich nein
Ein Blauwal
im Brustkorb –
paßt der da rein?
Eigentlich nein eigentlich nein eigentlich nein
eigentlich nein

Kommentar:
Bestandsaufnahme, Inventur. HRK scheint unzufrieden. Deshalb schreibt er hier auch einen wütenden Text zu wütender Musik und will über Formulierungen seinem Randy nahe sein. Schafft er es? Eigentlich nein. Nicht wirklich, kannte er vor zehn Jahren noch nicht. Doch das passt alles sehr gut zusammen und dann ein Satz, in Großbuchstaben in meine Stirn gemeißelt: Nichts reimt sich im Deutschen auf Mensch. Für solche Momente mag ich ihn und für die kleinen anderen funkelnden Blitze auch.

Keine Umkehr mehr
Bleibt wie ihr seid
einen Moment
im Sekundenregen
fühlt wie er webt
atmet und lebt
immer euch entgegen
Faßt euch ein Herz
hebt es empor
alle Lügen enden
nichts ist vertan
schweigsamer Plan
zwischen unsren Händen
Immer mit dem Schlimmsten gerechnet
nirgends angeeckt
niemals in den Klingelbeutel
Knopf statt Mark gesteckt
doch der Tag ist nagelneu
und das Glas ist halb voll statt halb leer
keine Umkehr keine Umkehr keine Umkehr mehr
keine Umkehr mehr
Geht eures Wegs
heilt was ihr könnt
warm vom Wort durchdrungen
jedem ein Lied
was auch geschieht
allen wird gesungen
[…]

Kommentar:
Ausgewandert? In eine bessere Welt. Warum denn nur so wenig griffig. Werden Sie doch mal konkreter oder passen dann die Wortspiele plötzlich nicht mehr. Die Musik ist mehr un als plugged und dementsprechend typisch Kunze. Für Lagerfeuer und Esoterik-Abende. Versteh ich nicht und wenn, dann will ich es gar nicht wissen. Langweilig.

Einfacher Mann
Ich weiß was sich gehört
man ißt nicht mit den Fingern
und man kuckt bei fremden Damen
nicht immer nach den Dingern
man achtet das Gesetz
und auf die äußere Erscheinung
und sagt um Gottes willen
niemals ehrlich seine Meinung
Oh ja ich tu was ich kann
ich bin nun mal ein einfacher Mann
[…]

Kommentar:
Einfache Männer kenne ich oberflächlich betrachtet zuhauf, von denen ist keiner ein Lied wert. Und was ist das bitte für eine Musik? Nein, ich bin nicht müde genug, dass zu akzeptieren. Ich stelle mir das mal so vor: Wir haben zwölf Titel für die CD, aber noch ein bisschen Platz. Ok, lass uns einen dreizehnten dazu nehmen, wenn das Album dann floppt schieben wir es aufs schlechte Omen. Herzlichen Glückwunsch. Hat geklappt und was ist das Beste daran: Dieser Song trägt eine Teilschuld. Himmel hilf!!!

Freier Fall
Ihr Schlaf war schwindlig
verstört und sonderbar
bis sie entdeckten
was von ihm übrig war
Pfeilstill und senkrecht
ins freie Feld geflogen
Reißleine Eins
doch nicht die Zwei gezogen
Schirm Eins und Zwei
gefaltet und geschlossen
er kam kopfüber
wie Blei herabgeschossen
ALS SIE IHN FANDEN IST ES ALLEN AUFGEFALLEN SEIN OVERALL WAR FEUCHT UND ROCH NACH ALGEN UND KORALLEN
Pfeilstill und senkrecht
ins freie Feld geflogen
Reißleine Eins
doch nicht die Zwei gezogen
Reißleine Zwei
noch hat er alle Zeit der Welt
doch es gefällt ihm
wie er fällt
ER IST IN EINEM FEDERLEICHTEN MEER VERSUNKEN
UND HAT ES BIS ZUM LETZTEN TROPFEN AUSGETRUNKEN

Kommentar:
Musik wie Grunge-light. Der Text ein Dejavu, bzw. eine seherische Fähigkeit? Hier würde mich nur eins interessieren: Hat HRK hier Angst vor sich selbst bekommen, letztes Jahr? Ansonsten ist die Musik sehr konstruiert finster mit einem strahlenden Refrain, der gar nicht passen will. Easy Listening par excellence. Lückenfüller, mindestens.

Du gehörst zu jemand andrem
Du gehörst zu jemand andrem und ich auch
um so dunkler brennt dies Feuer ohne Rauch
Glück im Unglück dieser schlimme alte Brauch
du gehörst zu jemand andrem und ich auch.
Du gehörst zu jemand andrem und was nun
wir sind zu erwachsen um uns zu vertun
doch zu jung um auf Ruinen auszuruhn
du gehörst zu jemand andrem und was nun
Ich stelle mir oft vor wie er jetzt gerade an uns denkt
wohin er seine absichtslosen schweren Schritte lenkt
Gesichter in den Straßen schauen weg wenn er sie sucht
er kommt sich wie ein Monstrum vor verstoßen und verflucht
Du gehörst zu jemand andrem der jetzt weint
ihm ist nichts egal auch wenn es dir so scheint
eine Frau sagt (und damit bin ich gemeint):
du gehörst zu jemand andrem der jetzt weint
Ich seh dir in die Augen und ich weiß du denkst an sie
so sah sie mich nur selten an ich will nicht sagen nie
falls doch dann ist das ewig her verschüttet und verjährt
es wird noch nicht mal Wut daraus auch wenn's schon lange gährt
Du gehörst zu jemand andrem und zu mir
meinen Streichholzkopf verdanke ich nur dir
wenn ich gaukle dann erlege diesen Stier
du gehörst zu jemand andrem und zu mir
Du gehörst zu jemand andrem und ich auch

Kommentar:
Zunächst dachte ich, wieder so was unverstehbares, doch genauer betrachtet stimmt das so. Muss ja nicht genau so laufen, aber eine durchaus nachvollziehbare Geschichte. Hier gelingt HRK wieder ein Fünf-Sterne-Song. Allein schon durch die zurückgenommene Wortgewalt. Dann mag ich ihn besonders. Er sollte sich mehr über natürlichere Themen definieren. Die Musik ist balladesk und passend sehnsüchtig.

Hereinspaziert
Das gesunde Volksempfinden schielt in Haken schwarzweiß
unsre heimische Hölle todschick und brandheiß
der betroffene Rocker macht Musik aus'm Bauch
riecht verdächtig nach Blähung und so klingt es dann auch
Die beamteten Denker ratlos postmodern
überm Herzen der Schwachen glimmt ein gelblicher Stern
eimerweise in Talkshows fließen Krokodilstränen
und die Werwölfe lachen sich scheckig und gähnen

Hereinspaziert hereinspaziert
der Ruf ist endlich ruiniert
die Festung rotz- und wasserdicht
und die im Dunkeln sieht man nicht

Eine Safer Sex Party mit besonderer Note
im beleuchteten Pool treiben selige Tote
selbst dem letzten Idioten sitzt die Endzeit im Nacken –
wie lang hängst du am Abgrund wenn die Geier dich hacken
[…]
Hereinspaziert hinausgelogen
das Mitleidskonto überzogen
die Arche voll die Klappe zu
please don't call us we won't call you
[…]

Kommentar:
Hoppla, richtig gut geht es los. Und ist das Ironie da oben und überall. Wunderbar, ein richtig guter Song mit kleinen Stichen und so rockig war er selten. Hervorragend.

Der Mann der zu atmen vergaß
Jemand schläft in meinem Schlaf
Ironie verträgt er nicht
jemand beichtet meinen Fund
jemand wächst mir durchs Gesicht
Jemand blutet seit ich traf
leugnet was noch für mich spricht
jemand leckt mein Glashaus rund
geht zum Brunnen bis er bricht
Der Mann der zu atmen vergaß
[…]

Kommentar:
Diesen Text hätte er besser nur vorgelesen. Warum verfällt er immer der Unart, alles was sich reimt auch zu fressen. Musik platt wie der Norden, hier versucht HRK mit weiß auf weißem Grund zu malen. Blut ist sein neues Spielzeug, aber es schockiert nicht, weil er keinen Bezug schafft. Wer ist jemand? Schlecht.

Goethes Banjo
Ich büße auf heimlichen Reisen
in Ländern aus Leere und Glut
ein Märtyrerwerben
Verschmelzen und Sterben
gekreuzigt in Dünen aus Blut
Die Frau soll nichts fragen und warten
in einem Hotel in Oran
mein Glück ist wie Pest
wie Toteninzest
sie zieht nie das Richtige an
[..]

Kommentar: Was tun, wenn die Musik zuerst da ist? Dann muss ein Text her, der so aufgetürmt wird, bis nichts mehr übrig bleibt von irgendeiner Form von Phantasie. Die Musik ist klasse, keine Frage, auch die Melodieführung, aber was der Dichter und Denker und Verrenker sich hier aus den Rippen schneidet ist anstrengend und nimmt mich nicht mit.

Tohuwabohu
So wie man Ende der 60er Jahre
eben Helga hieß, wenn man als Mädchen
oben mitspielen wollte … aber
ich war ja nicht mal ein Mädchen.
Ich korrigierte das Ende des Zweiten Weltkriegs,
mein böser Onkel trank Asbach,
kotzte vom Balkon und sah Studentinnen nach,
mit Blumen im Haar.
Ich saß zwischen Hundegebirgen in karierten Gärten,
spielte Wandergitarre, wie im CVJM gelernt,
und konnte mich nicht entscheiden
zwischen Reinhard Mey und Kick Out The Jams, Motherfuckers.
Tohuwabohu.
[…]
Im Unterricht hob ich meine häßlichen Pullis bis an die Brustwarzen
(„Sei ganz ruhig! Du bist unter Feinden!“),
der Lehrer fragte
PROBLEME MIT DER UNTERWÄSCHE?
Seit damals schiebt wieder und wieder
der gräßliche Zwilling die Kennkarte quer in meinen Kopf
und reißt mir die lächelnden Mundwinkel blutig,
verläßt mich niemals ganz der Wunsch
nach hunderteinunddreißig Tagen
Koma.
Tohuwabohu.

Kommentar:
Ganz und gar nicht meine Biografie, aber viele angesprochene Dinge nett verpackt und als Slogans getarnt. In meiner Parallelklasse war eine Helga, aber die spielte ganz und gar nicht oben mit. Und wieder viel Blut, Körper, Sex, er kann es nicht lassen, es ist seine Sprache. Sie ist voller Sekret und tut weh oder (wow) drückt etwas aus, was man nicht wissen möchte. Aber dieser Text ist auch krank in seinen Bildern. Ich kann es mir alles gut vorstellen. Muss es deshalb wahr sein? Glaubt keinem Sänger.

Mit Macht Musik hat Kunze etwas sehr Eigenartiges geschaffen. Zum einen gibt er sich sehr introvertiert und wendet sich vom Hörer ab, bzw. lässt ihn irgendwo stehen, andererseits besticht er durch eine Auffassungsgabe und Textkunst, die bei mindestens drei Liedern deutlich über normal liegt. Doch alles in allem wirkt vieles hier marode und unausgegoren, auch wenn es kompakt scheint. Um nicht angreifbar zu wirken verschanzt er sich zu oft hinter Wortkaskaden, dass einem Hören und Sehen vergeht. Meterdick schichtet er Gebilde um Gebilde auf, wie Eis, dass sich in der Arktis gegeneinander schiebt und bricht und kracht. Getöse, Marktschreierei, hier vereint er alles, was seinem Ruf voraus eilt. Mit diesem Album habe ich bis jetzt meinen Abschluss gefunden, ich bin so schrecklich vollgefressen von schwerer Kost. Diese Album mit drei Sternen zu bewerten würde im Kunze-Gesamtprogramm funktionieren. In der weiten Welt der deutschen Rock- und Popmusik, darf es nur zwei Sterne haben, sonst tut man zu vielen anderen Unrecht.

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Das fiel mir ein als ich ausstieg.