Re: Eure 20 liebsten Tracks seit 2000

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wahr

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Ein Track pro Interpret, kein Track aus den Top 50 Alben. Mit einer Ausnahme, die mir durchgerutscht ist und die ich jetzt nicht mehr ändern werde.

01 Disrupt – Last Blade
Der beste Track der letzten 20 Jahre kommt aus Leipzig. Was gleich einen Skandal offenlegt: Diese Liste enthält keinen Dub von Rhythm & Sound! Dafür aber diesen ‚Killer‘ (sagt man im Reggae so, auch im digitalen Reggae, auch im digitalen, schwer mit antiken Atari-Sounds beschossenen Reggae). „Last Blade“ bedient sich einiger Samples aus Kung-Fu-Filmen, was jetzt nicht so außergewöhnlich ist, aber unheimlich schweren Spaß macht. Nie ist das Geräusch sich kreuzender Klingen kämpfender Samurai so schön in einen Track eingearbeitet worden. Bis, äh, die letzte Klinge sich kreuzt. Überhaupt hat die Leipziger Jahtari-Posse nebst ihren weltweit verstreuten Digital-Reggae-Filialen noch viele weitere Wundertracks auf ihrer Website versammelt. Bitte gerne mal dort vorbeischauen. Da gibt es bestimmt auch immer noch „Last Blade“ zu hören. Oder „The Blink Of Destruction“, ebenfalls von Disrupt. Ähnlich gut, ähnlich atari-esk, ähnlich humorvoll. „Attenciooo!“

02 Grandaddy – He’s Simple, He’s Dumb, He’s the Pilot
Es gibt so Songs, die reisen weit weg, kommen zurück, breiten sich aus, erzählen zwischen den Zeilen und den Tönen von ihren Veränderungen und überhaupt wie alles miteinander zusammenhängt. Kurz: Es gibt Songs, die sind wie ein Spätwestern von John Ford oder ein Buch von David Mitchell. So ein Song ist „Misfits“ von Neil Young oder „‘Cross The Green Mountain“ von Bob Dylan oder „He’s Simple, He’s Dumb, He’s the Pilot” von Grandaddy.

03 Athlete – El Salvador
Ich kann mir keinen Opener eines Albums vorstellen, der mich mehr aufbaut als „El Salvador“. Muss mir glatt mal die Lyrics besorgen. Hoffe, da geht’s nicht um irgendwas Schlimmes. Ich will mir den herausgehörten Optimismus erhalten.

04 Rufus Wainwright – Gay Messiah
Ich war seit seinem Debut sein größter Fan, fand alle Alben großartig und hielt ihn für den besten Songwriter der neueren Zeit. Nach „Want Two“ verlor ich plötzlich das Interesse an seinem Output, kaufte mir zwar noch das Folgealbum “Release The Stars”, hatte aber nie das Bedürfnis, mich damit zu beschäftigen. Ein gefallener Held, oder besser: Ein gefallener Fan, denn der Held konnte irgendwie nichts dafür.

05 Bob Dylan – ‘Cross The Green Mountain
Siehe Grandaddy.

06 Gillian Welch – My First Lover
Ich mag es, wenn Frauen selbstbewusst sind – und Banjo spielen. Ein toller Song, in dem der erste Liebhaber nicht besonders gut wegkommt. Er kommt aber auch nicht besonders schlecht weg. Er war eben einfach aus verschiedenen Gründen keine dauerhafte Wahl. Ein Song gegen den (oft von Männern) praktizierten Mythos, dass die erste Liebe aufgrund ihrer Einmaligkeit etwas ganz Besonderes ist. Doch es kommt wahrscheinlich gar nicht selten vor, dass man sich eben nur ganz unspektakulär an sie erinnert. Es gab später halt bessere Lieben.

07 Daniel Higgs – Thy Chosen Bride
Wie vielleicht der ein oder andere schon mitbekommen hat, mag ich Banjo (das Instrument, nicht den Snack). Und Daniel Higgs ist noch so ein Ex-Hardcore-Punk (wie auch Paul Metzger), der sich irgendwann dem Banjo verschrieben hat. Und predigt Gott in einer seltsamen Hingabe, bei der ich immer nicht genau weiß, ob sie nicht genau das Gegenteil meint von dem, was sie predigt. Gegen Higgs ist Eugene Edwards ein freundlicher und wohlwollender Pfarrer in einer idyllischen Kleinstadt. Higgs preist nicht nur den HErrn, sondern drängt sich ihm gleich als perfekte Braut auf. Wär ich Gott, ich würd ihn heiraten.

08 Joanna Newsom – Easy
Müsste selbst diejenigen überzeugen können, die sich bei ihrer Stimme die Ohren zuhalten. Denn auf „Have One On Me“ klingt die Newsom gar nicht mehr ganz so arg kieksig. Mir gefallen die relativ reduzierten Arrangements auch besser als die auf Dauer doch etwas sehr zugedrechselte „Ys“. „Easy“ ist toll verzögerte Musikkunst, die sich schön aufbaut und nicht unter ihrer Songlast zusammenbricht. Wobei der Song an sich natürlich 1000 Milliarden Tonnen Last aushalten würde. Die Newsom ist schon ziemlich einmalig.

09 Ultra Nate – Twisted (Original 4 Hero Remix)
Ich habe eine große Schwäche für den treibenden, gleichzeitig schwebenden Club-Untergrund und den ganzen Trackaufbau. Rollend, drehend, leicht schwindelig machend. Als wäre etwas passiert, was man noch nicht ganz zu fassen bekommt, und man schwebt noch ein bisschen mit wackeligen Füßen und Gedanken über dem Geschehen. Es geht um überraschend großartigen Sex, der an die Grenze geht und das Herz erreicht: „Strained against the wall/ Driving deeper inside/ Till you reach my heart”. Der Track eine Mischung aus Erschöpfung, Verwunderung und Reflektion. Und mit tollem Refrain (“The harder I fight the better it feels …“). Bis hier wär‘s echt schon genug gewesen für einen Über-Track, aber dann kommt luxuriöserweise noch ein ganz wundervoller Part, eine bezaubernde Zusatzmelodie, wieder so zart und doch so schwindelig und schwebend: „Ooooo, got me going round and round and round …“, ein paar Mal dreht sich der Part um die eigenen Achse, während Ultra Nate weiter vor sich hin reflektiert, ohne das alles so richtig fassen zu können. Sie spricht mehr zu sich selbst als zu uns: „I don’t know what I am doing/ I am lost in this madness/ … But it’s alright“. But it’s alright – jenseits der Kuschelzone.

10 Bon Iver – Flume
Hier passiert nichts grundsätzlich neues, aber die Mischung aus hoher Stimme, dem Sirren auf der Akustischen und dem unerklärliche kleine Wunden schlagendem Gesamteindruck lässt mich auch heute noch ziemlich sprachlos zurück. Ich weiß eigentlich immer noch nicht, was auf „Flume“ wirklich passiert.

11 I Am Kloot – Strange Without You
Ich stehe nicht so auf selbstverliebten Großmaul-Rock. Daher fallen mir, wenn es um britische Bands relativ neueren Datums geht, die den klassischen Weg der Kinks oder Who oder der Beatles fortführen, eben nicht Oasis, sondern I Am Kloot ein. „Strange Without You“ ist ein meisterhaft aufs Wesentliche reduzierter Song, der gut das Gefühl einfängt, wenn man an Orten und in Zeiten lebt, die allesamt fremd erscheinen, weil in ihnen die Hauptsache fehlt. Zweiminutenfünfundzwanzig, gegen die ich das Gesamtwerk der Brüder Gallagher gerne ignoriere.

12 The Fall – Theme From Sparta F.C. (von „The Complete Peel Sessions 1978-2004“)
Ja, auch ich hänge mitunter an alten Säcken, die längst ihre beste Zeite hinter sich haben, und an denen ich hänge, weil ich längst meine beste Zeit hinter mir habe. Zufällig machen solche Säcke manchmal dann ihre mitunter beste Musik ihrer Karriere, wenn sie längst ihre beste Zeit hinter sich haben. Ich wäre ja dämlich, würde ich das nicht anerkennen.

13 Bohren & Der Club Of Gore – Midnight Black Earth
Schönes Video dazu von Mark Sikora. Langsame Überblendungen eines dunklen Planeten. In meiner Erinnerung wird daraus aber immer der Kuchenteig-Planet aus einer „Raumschiff Orion“-Folge, über den die Kamera langsam entlang gleitet. Das nimmt dem Track vielleicht etwas seine Ernsthaftigkeit, aber Bohren können das gut vertragen.

14 Metro Area – Caught Up
Von Morgan Geist will heute auch niemand mehr was wissen, habe ich den Eindruck. Dabei war er Anfang der Nullerjahre mal ziemlich gut im Geschäft. Ich hoffe, er hat sich damals das Bankkonto vollgeremixed und genießt jetzt ein finanziell abgesichertes Leben. Morgan Geist hatte die Fähigkeit Disco-Schlüsselreize auf ihre Essenz zurechtzuabstrahieren. Runde Grooves kantiger, trockener und metallischer klingen zu lassen. Dabei aber nicht auf großes Tempo gehen zu müssen. Natürlich schwang das trotzdem wie Hölle, aber eben so, dass man wusste, hier weiß jemand, warum er wie was zusammenbringt und in welcher Tradition es steht. Man konnte also tatsächlich beim Tanzen noch was lernen. Für einen möchtegernintellektuellen Fuzzy wie mich also genau das Richtige.

15 Stadionbesucher des Eröffnungsspiels der Fußball-WM in Südafrika – Vuvuzela Drone
Und Afrika erschuf den Vuvuzela-Drone. Das Eröffnungsspiel der Fußball-WM 2010 am 11. Juni in Südafrika bot die Bühne für ein Setting, das sich Drone-Minimalist LaMonte Young oder Vokal- und Klangflächenkomponist György Ligeti nicht mal im Traum ausgedacht haben könnten: Ungefähr 60000 Menschen blasen gleichzeitig zweimal 45 Minuten in ungefähr 60000 Plastiktröten und erzeugen einen sehr lauten, gleichbleibenden, um die eigene Achse irisierenden, im Stadionrund vielfach zurückgeworfenen Brummton. Die Tonübertragungstechnik sollte erst nach einigen Spielen den Dreh herausbekommen, wie man die Vuvuzelas zu einem Winseln reduziert, aber im Eröffnungsspiel bekamen abermillionen Zuschauer weltweit noch die volle Packung geliefert. Nie hat ein Drone mehr Zuschauer erreicht. Nie war eine moderne Komposition näher an der Menschheit dran.

16 Alexander Tucker – Omnibaron
Tucker ist so ein experimenteller Folker, der sich diverser elektronischer und akustischer Quellen bedient, um aus allerlei Vorkommnissen, die sich am Rande des Jenseitigen abspielen, sein eigenes „Ding aus dem Sumpf“ zu bauen und zum Leben zu erwecken. Pitchfork vergab für „Portal“ – auf dem „Omnibaron“ enthalten ist – ganze 2.0 von 10.0 Punkten. Ich setze mein schallendstes Lachen auf ob dieser fatalen Fehleinschätzung.

17 Grails – Future Primitive
Die kanadischen Postrock-Gruft-Hippies GRAILS wenden auf “Deep Politics” den genialen Trick an, die Tracks wie aufemotionalisierte Firmenpräsentationsmusik zu behandeln. „Future Primitive“ wird zum „proud impressive main title“. Wo soll ich den Kaufvertrag unterschreiben?

18 SunnO))) & Boris feat. Jesse Sykes – The Sinking Belle (Blue Sheep)
SunnO))) sind auf ihren Platten gemessen am Live-Eindruck eher ein laues Lüftchen, aber wenn sie mit anderen kollaborieren, verschieben sich die Gewichte weg vom reinen Sound-Drone, und dann machen Platten auch wieder mehr Sinn. So wie bei ihrer Zusammenarbeit mit Boris: „Altar“ von 2006. „Sinking Bell“ darauf ist mit der brüchigen Stimme von Jesse Sykes beschickt, eine naheliegende Wahl, denn die Sykes hat’s auch gerne mal dunkelseelig und tempodrosselnd und passt daher perfekt in den langsam versinkenden Track hinein. Über die schon fast schmerzhaft guten Covergestaltungen von SunnO)))-Chefdenker Stephen O’Malley könnte man sicher einen eigenen unterhaltsamen Forumsthread füllen. So auch bei „Altar“, wo sich die mönchskuttenbehägten Beteiligten auf der Cover-Rückseite in einem sonnendurchfluteten Maisfeld zusammendrängen. Zart umrahmt von einem stilisierten Distelstrauß. Schaurig und lustig zugleich.

19 The Thing with Jim O’Rourke – If Not Ecstatic, We Replay
22-Minuten-Monster, das sich anzuschleichen versucht (man hört erstmal nur die losgerissenen Ketten rasseln), dann in Ekstase tobt und sich schließlich schlafen legt. Trackbetitelung ist einer mir unbekannten Free-Jazz-Platte angelehnt, die aber Mats Gustafsson natürlich in seiner riesigen Platten-Sammlung hat und den weit aus dem Fenster lehnenden Titel trägt: „If Not Ecstatic, We Refund“. Von „Shinjuku Growl“, die ich gerade frisch in meine „Top20 Alben ab 2000“-Liste gewählt habe.

20 16 Horsepower – Outlaw Song
Manchmal treibt mich Eugene Edwards‘ Predigerpathos die Wände hoch. Dann wieder breite ich mein edelstes Gewand vor seinen Füßen aus, auf das er möge segnen es mit dem Dreck seiner Stiefel. So auch bei dieser uralten Ballade, die 16 Horsepower mit prominent in Szene gesetztem Banjo zum Leben erwecken. Und wo etwas lebt und weiterleben will, da ist der Tod auch nicht weit. Wer hat nicht volles Verständnis dafür, dass diejenigen, die Edwards großes graues Pferd für sich beanspruchen, schneller sterben als sich beklagen können? Selbst wenn Edwards es gar nicht auf Ärger anlegt. Selbst wenn sie im Recht sind. Einer der besten Banjo-Sounds, die ich kenne.