Re: U2 – Songs of Innocence

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chet

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Es ist von sehr vielen Faktoren abhängig, ob man ein Album mag. Persönliches, Subjektives, sicher auch Objektives. Selbst Rezeptionsbedingungen können entscheidend sein, ob man ein Album kategorisch ablehnt oder ihm verfällt. Jedoch eine Höchstwertung für dieses Album? Fünf Sterne, lieber Herr David Fricke? Ihre Rezeptionsbedingungen können nur wie folgt ausgesehen haben: Sie saßen auf Bonos Schoß, während Sie dem Album lauschten.

Das Album hat schon schöne Momente – genau wie jedes der vorherigen 4 Alben. Merkwürdig finde ich allerdings, dass man ein solch sperriges Album 500 Millionen Menschen in die Cloud legt. Wieso nicht stattdessen eine Best-Of-Compilation for free und das neue Album zum Schnapperpreis von 3,99 – Geld verdient die U2-Maschine doch eh im wesentlichen am Tourgeschäft (wobei… 100 Millionen für diesen Apple-Deal und dann dieses Album Apple rüber zu schieben… vielleicht haben U2 doch mehr Humor, als wir alle dachten).

Streckenweise scheint mir das Album die Fans abholen zu wollen, die nach „War“ ausgestiegen sind und für die „Joshua Tree“ bereits der Ausverkauf war. Volcano… This Is Where You Can Reach Me Now… Raised By Wolves. Irgendwie mutig. Aber auch die „Joshua Tree“-Fraktion wird bedient: Every Breaking Wave, Iris, Cedarwood. Man könnte fast von einem Retro-Album sprechen. Der U2-Sound der 80er neu interpretiert. Ich bin hin und her gerissen. Ich summe eine bestimmte Melodie des Albums seit Tagen vor mir her – aber ein großes Album ist es sicher nicht. Schon gar nicht bewerte ich einen Song mit dem Authentizitätsterrorargument „mein persönlichster Text – er handelt von meiner verstorbenen Mutter“. Was wissen wir von Bob Dylans Mutter? Richtig. Und das ist auch gut so.

1997, Pop. Was für ein unperfekt raues, tolles, kraftvolles Album. U2 waren nach der Veröffentlichung sehr unzufrieden mit dem Album, weil es unter hohem Zeitdruck entstanden ist. Einen Eindruck davon, wie es eigentlich hätte klingen sollen hat man, wenn man die Single-Version von „Please“ mit der Album-Version vergleicht. Oder die „Best of 1990–2000“-Versionen von „Gone“ und „Staring At The Sun“ mit den ursprünglichen Versionen. Die Zauberformel hieße: Entreißt U2 die Aufnahmen rechtzeitig, bevor schlimmeres passiert. Ich werde den Erfolg von „All That You Can’t Leave Behind“ nie begreifen, vor allem den der Singe „Beautiful Day“ nicht. Das ist wie für den Präsidentschaftswahlkampf der Demokraten geschrieben. Furchtbar. Im Soundgewand von „Wake Up Dead Man“ oder „Holy Joe“ wäre die Hookline „What you don’t have you don’t need it now What you don’t know you can feel it somehow…“ zumindest musikalisch Teil eines tollen Rock Songs. Wenn dieser Text nicht wäre. Doch vielleicht interpretiere ich zu viel Wünsche in eine Band, die mich seit 20 Jahren anzieht – aber zu der ich trotzdem ein gespaltenes Verhältnis habe. Ich glaube die letzten 14 Jahre erklären perfekt die Beziehung von Apple und U2. Irgendwie spiegelt diese Band doch ein Lebensgefühl wieder, wie es in Apple-Werbespots zum Ausdruck kommt. Man ist ein bisschen digital, ein bisschen familiär, ein bisschen Patchwork, ein bisschen nachhaltig, ein bisschen Rock, ein bisschen Pop, sehr authentisch, gegen Todesstrafe und für Brillen, für die Hans-Jürgen Wischnewski in den 90ern ausgelacht wurde, Klamotten wie Jony Ive, Umhängetaschen wie ein Großstadtblogger, in der Küche acht Olivenöle aus verschiedenen Regionen und den ganzen Tag so eine säuselnde Frauenstimme zu Ukulele und Glockenspiel im Ohr. So fühle ich mich nach dem Hören eines U2-Albums. Auch, wenn „Songs of Innocence“ weit davon entfernt ist, ein gefälliges Coldplay-Pop-Album zu sein.

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