Re: Ich höre gerade … Electronica

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friedrich

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KOMPAKT Festspiele – Teil 3

Vermont (2014)

Vermont sind Marcus Worgull und Danilo Plessow, die eigentlich für das Label Innervisions bzw. unter dem Namen Motor City Drum Ensemble Material für die Tanzflächen produzieren. Zwei mir bislang unbekannte Figuren, die sich für Vermont erstmalig zusammengetan haben um ein Album für KOMPAKT zu produzieren. Diese Gelegenheit nutzen sie, um sich mal abseits des Diktats der durchgehenden bassdrum zu bewegen. Tatsächlich gibt es auf Vermont kaum mal überhaupt beats zu hören. Stattdessen haben die beiden im Studio auf analogen Synthesizern herum improvisiert und so 14 musikalische Miniaturen geschaffen. Meist sind das nur ein paar einfache patterns, die sie überlagern, gegeneinander verschieben und variieren. Es schwillt an und ab, setzt ein und aus, hier ein kurzes Melodiechen, da ein kleiner groove. Ganz einfache Mittel eigentlich, aber mehr brauchen Worgull und Plessow nicht. Vermont klingt sehr lässig, aufgeräumt und transparent, ganz entspannt fließt die Musik dahin. Gleichzeitig entlocken Worgull und Plessow den analogen Synthesizern eine schön gefächerte Klangvielfalt und schaffen damit eine fast organisch wirkende, ebenso schlichte wie schöne Musik, die man in ihrer zurückhaltenden Art bedenken- und achtlos nebenher laufen lassen kann. Aber wenn man auf dem Sofa dösend versehentlich doch mal hinhört, entwickeln die einzelnen Stücke auf einmal eigene Charaktere und werden zu kleinen Pop-Perlen.

Wenn es auf den beiden Stücken Cocos und Macchina dann doch mal drums zu hören gibt, spielt sie Jaki Liebezeit, der drummer von Can. Vermont atmet sicher auch etwas von der Unbeschwertheit des Krautrocks und früher elektronischer Musik, jedoch hört sich das hier fokussierter und kompakter an. Und vielleicht kann man auch die frühen Kraftwerk oder Harmonia als Inspirationsquellen heraushören, weniger jedoch Can mit deren ausufernden Kollektivimprovisationen.

Vermont ist sicher die Platte, die ich in den letzten Wochen am häufigsten gehört habe. Und ich habe sie immer noch nicht satt. Vermont sei jedem empfohlen – ob er sich für Elektronische Musik interessiert oder auch nicht.

Vermont bei KOMPAKT

Noch was: Wenn man Vermont bei KOMPAKT als Vinyl kauft, bekommt man eine LP + eine 7“. Darauf sind alle Stücke des Albums enthalten, das zusätzlich noch als CD beiliegt. Das alles zu einem Preis, für den man üblicherweise gerade mal die CD alleine erhält. Ich weiß nicht, ob hinter KOMPAKT am Ende doch ein böses Ausbeuter-Imperium steht, das unbezahlte Praktikanten im finsteren Keller Tonträger verpacken und verschicken lässt, um solche Angebote zu ermöglichen. Vorerst vertraue ich darauf, dass Mayer, Paape & Voigt ihr mittelständisches Unternehmen so klug und effizient führen, dass sie „ihrem Freund, dem Kunden“ (Voigt) diesen Service bieten können.

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)