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Autechre – Incunabula (1993)
Incunabula ist Autechres Debut Album, das 1993, also ein Jahr vor Amber erschien. Das Wort Incunabula ist die lateinische Bezeichnung für Bücher, die bis 1500, also in der Säuglingszeit des Buchdrucks gedruckt wurden. Frappierend, wie treffend das britische Duo die Frühphase seiner Karriere damals schon charakterisieren konnte. Dabei hatten sie damals noch nicht den zeitlichen Abstand, den man eigentlich braucht, um ein Urteil darüber abzugeben.
Incunabula klingt tatsächlich so, als würden Autechre noch etwas nach ihrer musikalischen Sprache suchen. Hier gibt es noch Elemente, die man auch von anderer Electronica aus dieser Zeit kennt: Man hört den TR 808 (oder so) tuckern, auch so manche andere Sounds meint man irgendwoher zu kennen, den Acid House TB 303 glaube ich zu hören, wenngleich das hier nicht eingesetzt wird um Tanzflächenfutter zu produzieren. Dazu ist es dann doch zu komplex, vielschichtig, versponnen und atmosphärisch und nicht direkt auf die Eins und deutet damit schon klar in eine andere Richtung. Eigentlich kann man erst im Rückblick erkennen, dass dies so etwas wie eine Vorstufe zu späteren Sachen von Autechre ist – wie z.B. Amber – mit der Autechre viele Stereotypen von elektronischer Musik mit vorprogrammierten Sounds hinter sich lassen. Rätselhaft, wie Autechre das aber damals schon in Echtzeit so gesehen haben. Vielleicht ist der Titel der Platte aber auch Zufall und ergibt erst im Nachhinein diesen Sinn.
Dennoch ist Incunabula eine sehr gute Platte. Aus heutiger Sicht klingt sie fast schon demonstrativ artifiziell und technoid, kalt und metallisch, aber auch schon sehr vielschichtig und vom Klang sehr reich. Kann durchaus auch als sie selbst bestehen. Ich habe Incunabula erst nach dem später erschienen Amber kennengelernt – heute! – und Amber habe ich auch erst nach dem wiederum danach erschienen Album kennengelernt, also in reverse. Faszinierend, die frühe Entwicklung von Autechre aus der heutigen Perspektive rückwärts nachzuvollziehen.
Aktuelle Musik von Autechre kenne ich übrigens noch gar nicht.
Die Cover von Autechre-Alben wurden mit fortschreitender Zeit eindeutig besser.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)