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Anonym
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Jetzt die Langfassung: Motown wollte „Hitsville USA“ sein, nicht Soulsville oder Artsville und auch nicht bloß Detroit, es musste schon Hitsville USA sein. Und Motown wollte „the sound of young america“ produzieren, nicht „the sound of black america“. Das waren die Ansagen, und die sollte man schon ernstnehmen, ganz egal, ob man die Ergebnisse gut oder schlecht findet. Es wären jedenfalls andere geworden, wenn es nicht diesen größeren Ambitionszusammenhang gegeben hätte.
Es geht ja das Gerücht, Gordy habe sich an der Auto-Produktion orientiert – straffe Qualitätskontrolle, Innovationen entwickeln, erfolgreiche Linien variieren, hohe Produktionseffizienz, Schnelligkeit beim Nachliefern eines „Folgemodells“, Einhaltung von Produktionszyklen, die sich als marktkompatibel erwiesen haben; wer böse sein will, darf gerne auch „Fließbandproduktion“ dazu sagen.
Und die Talententwicklung, der Aufbau von Acts lief auch nach sehr speziellen Prinzipien (ich verwende zur Beschreibung jetzt mal extrahässliche Vokabeln …): Man investierte in sie, bis sie sich amortisierten. Freundlicher ausgedrückt: Ließ sie Tourerfahrungen sammeln, begleitete sie, baute sie auf, bildete sie aus, verpasste ihnen Schliff, brachte sie mit kompetenten Lehrern, Produzenten, Partnern zusammen, suchte nach dem passenden – mal eher samtigen (Supremes), mal emotionswuchtigen (Four Tops) mal was weiß ich wie beschaffenen – Klangformat für sie.
Gängelte man sie auch? Definitiv (weshalb ja mehr als einer irgendwann ausbrach – und manche wurden dabei noch größer, während andere nie wieder an frühere Erfolge anknüpfen konnten). Es gibt zu jedem Aspekt der spezifischen Motownkultur ein Pro und Contra, man kann jedes Detail bewundernswert oder schrecklich finden oder beides. Aber die Musik von Motown lässt sich nicht verstehen ohne diesen Hintergrund – man kann die Frage, die da bei der Produktion immer mitschwang, nicht einfach ausblenden: Wie muss das Produkt beschaffen sein, damit es dem Anspruch, aus „Hitsville USA“ zu sein, gerecht wird und damit es nicht nur den Sound of Black America, sondern of Young America widerspiegelt? Und so kamen die Geigen zum Gospel, die Tambourine aufs Schlagzeug, damit noch der letzte Tanzdepp den Offbeat spürte, das Orchestrale zum Erdigen, und neben Tanz- und Gesangsunterricht gab es Benimmkurse.
Man muss das ja nicht alles gut finden, mir ist schon bewusst, dass das nicht dem Ideal des „freien Künstlers“ und seiner „künstlerischen Freiheit“ entspricht – aber das genau war doch mein Punkt: Auf genau diese besondere und womöglich durchaus fragwürdige Art ist eben etwas produziert worden, das eine ganz genuine klangliche Handschrift, etwas Besonderes hat. Zusammengefasst: Bei Motown wurde etwas produziert, das genau so, wie es klingt, deshalb klingt, weil verschiedene Faktoren, musikalische und außermusikalische, zusammenkamen; künstlerisches Talent, kommerzielle Ambition, arbeitsteilige und kapitalistische Produktionsweise, schwarzes Selbstbewusstsein, Crossover-Willen.
Und daraus kann man dann zweierlei folgern: Wenn man die Motown-Musik großartig findet (was ich tue), kommt man nicht umhin, die Besonderheiten ihrer Entstehung zur Kenntnis zu nehmen und neben dem Talent der beteiligten Musiker als mitursächlich zu akzeptieren. Wenn man sich zu diesem Eingeständnis nicht durchringen will, bleibt einem nichts anders übrig, als die Motown-Musik sicherheitshalber lieber mal nicht so großartig zu finden und zu sagen: „Wenn diese armen Künstler nicht diesem Schweinekapitalisten Berry Gordy in die Hände gefallen wären, hätten sie noch viel, viel tollere Musik gemacht.“
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