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Ein spannender Thread mit vielen guten Beiträgen. Danke dafür! Ich will noch einen Kommentar nachtragen zu einem Diskussionsstrang, der eigentlich schon durch ist (in den letzten paar Tagen war ich halt nicht hier, das kommt davon).
bullschuetzUnd damit wäre Blue Note/Lion ein weiterer Beleg dafür, dass ökonomisches Kalkül, kaufmännischer Verstand oder pragmatische Erdung (oder wie immer man das nennen will) der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen muss, sondern manchmal helfen kann, einen Stil zu definieren, oder die Musiker gar dazu zwingt, eine Klangidee auf den Punkt zu bringen (wobei ich, um ehrlich zu sein, Hardbop manchmal nur in Maßen ertragen kann, weil mir das dann tatsächlich bisweilen etwas formatiert vorkommt, relativ nahe am Klischee).
Jedenfalls darf man solche über ein Label vorgegebenen Korsett-Strukturen nicht nur als die Kunst lähmend, domestizierend, einschränkend verstehen – auch Blue Note ist ja ein Beispiel dafür, dass innerhalb dieser relativ straffen Struktur eine große Dynamik freigesetzt wird, eine gut geölte Aufnahme-Maschine zu schnurren beginnt, da bekommen plötzlich viele Musiker Gelegenheit, oft und unter professionellen Aufnahme- und Vermarktungsbedingungen ihre Arbeit zu machen; so gesehen ist das ein ausgesprochen kunstfreundliches Umfeld.
Der erste Teil der These („Ökonomisches Kalkül etc. muss der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen“) ist so schwach formuliert, dass niemand widersprechen wird, und deshalb als These nicht besonders spannend. Dass es da einen „unbedingten“ Widerspruch gebe, hat noch niemand behauptet. Wer die Kommerzialisierung der Kunstproduktion kritisiert, meint nur, dass ökonomisches Kalkül, Streben nach Gewinn, Marktdruck usw. ein kunstfremder Faktor ist, der das Kunstschaffen erschwert oder behindert – weil er die Beteiligten dazu bringt, auf Marktgängigkeit zu achten statt auf das, worauf es eigentlich ankommen soll in der Kunst (individueller Ausdruck, freies Spiel der Phantasie, die künstlerische Vision oder was auch immer). Der Marktdruck gilt den Kritikern als widriger Umstand. Dass auch unter solchen Umständen gute Kunst geschaffen werden kann, ist dabei mitgedacht, denn Kunst ist immer schon unter widrigen Umständen entstanden – da sind kommerzielle Zwänge nur eine Variante von vielen.
Wer von seiner Kunst leben will, muss entweder eine „Marktnische“ finden oder braucht einen Mäzen oder ist auf Staatsgelder angewiesen – in allen drei Fällen muss man sich mit Erwartungen auseinandersetzen, die dem eigenen künstlerischen Drang zuwiderlaufen können (nicht müssen, aber es oft genug auch tun – die Schriftstellerin Ursula LeGuin hat in Bezug auf das Streben nach Marktgängigkeit der eigenen Werke vom „Stalin in the soul“ gesprochen, der einen dazu bringt, manche potentiell gute Idee von vornherein zu verwerfen). Und wer nicht von seiner Kunst lebt, ist dadurch gehandicapt, dass der Brotberuf ihn Zeit und Energie kostet. Was da das kleinere Übel ist, lässt sich wohl nicht allgemein beantworten.
Eine wirklich freie Kunstproduktion kennen wir doch gar nicht. Dass es allen Menschen möglich sei, ihre Kräfte frei als Selbstzweck zu entfalten, ist immer noch Utopie. Dieser utopische Gehalt: die freie Entfaltung des Individuums, ist aber Teil unseres (bürgerlichen, abendländischen) Kunstideals, Teil des kulturellen Erbes – wenn ich mal philosophisch werden darf (ich höre gleich wieder damit auf). So lange es noch genügend Leute gibt, die dieses Ideal auf ihre Fahne schreiben, geht der zweite Teil Deiner These daran zuschanden („Musiker dazu zwingen, eine Klangidee auf den Punkt zu bringen“): Manchen kommt es eben darauf an, ob es wirklich ihre Klangidee ist… Wenn viele dieselbe Klangidee „auf den Punkt bringen“, ist sie bald nur noch ein Klischee, wie Du selbst sagst.
Aber unabhängig davon, was man allgemein von Deiner These hält, ist Blue Note kein gutes Beispiel dafür. Ja, auch Alfred Lion hat darauf geachtet, dass Geld hereinkommt und genügend Platten auch verkäuflich sind – aber das war keine Eigenart von ihm, sondern Notwendigkeit. Dasselbe gilt für alle anderen Label-Chefs und Jazz-Produzenten, die es seinerzeit gegeben hat, auch. Bei Lion war wahrscheinlich der Idealismus größer und der Bereicherungstrieb geringer als bei den meisten seiner Konkurrenten. Was hat er denn gemacht? Er hat nicht alles veröffentlicht, was seine Künstler aufgenommen haben, um die Nachfrage nicht zu übersättigen (und die Kosten zu begrenzen), er hat nach Stücken wie „The Sidewinder“ Ausschau gehalten und Künstler ermutigt, so etwas auszuprobieren, und von den halbwegs massentauglichen Stücken hat er Single-Edits für die Jukebox machen lassen – viel mehr war es doch nicht, soweit ich das überblicke. Da spielte anderswo das ökonomische Kalkül vermutlich eine größere Rolle.
Und das Kunstfreundliche an Blue Note waren wohl weniger die vom „Label vorgegebenen Korsett-Strukturen“ („two horns, three rhythm“ als Standardbesetzung und dergleichen), sondern schlicht der Kunstverstand von Lion, Wolff, Ike Quebec und all der anderen und vor allem die bezahlten Proben, die es bei anderen Labels nicht gab (nail75 hat das erwähnt). Bei Prestige sind dem Vernehmen nach die Junkies mal eben schnell ins Studio gegangen und haben ein Album aufgenommen, um sich damit das Geld für den nächsten Schuss zu verdienen. Alfred Lion hat seinen Musikern vorher Proben finanziert, damit sie bei der Aufnahme gut vorbereitet und eingespielt waren. Diese Investition in Qualität hat kurzfristig die Kosten erhöht und sich erst langfristig ausgezahlt, im Laufe von Jahrzehnten (aber langfristig sind wir alle tot). Als Geschäftsmodell war das so la la, aber der Kunst war es förderlich – weil die Spontaneität und Improvisation, auf die es im Jazz ankommt, auf reichlich Üben und Proben beruht. Kostensenkung und Gewinnmaximierung dagegen haben eher selten das Kunstschaffen gefördert.
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To Hell with Poverty