Re: Motown – Hits vom Fließband

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gypsy-tail-wind
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bullschuetzWie war das bei Alfred Lion? Wie aktiv und konkret wirkte er in künstlerische Entscheidungsprozesse wie Repertoirewahl, Besetzungen etc hinein?

Na ja, wie gesagt, er hatte halt (wie auch andere Produzenten) seine favorisierten Musiker. Sonny Clark am Klavier etwa, Art Taylor sass eher am Schlagzeug als Philly Joe (der war als Junkie zu notorisch unzuverlässig, wurde aber von Riverside regelmässig gebucht … und er war natürlich der explosivere Drummer), später dann Billy Higgins …. McLean, Morgan, Mobley, Fuller sind Musiker, die in diversen Kombination immer wieder auftauchen. Lion gab oftmals früheren Sidemen irgendwann ihre eigene Leader-Session, manchmal blieb es bei einer einzigen (Duke Jordan, Kenny Drew – der hatte zwar schon mal eine 10″-Platte gemacht, Jahre davor). Er hatte seine Exklusivkünstler wie Jimmy Smith, Horace Silver, Art Blakey, Hank Mobley (wobei ich nicht mal sicher bin, ob sie Exklusivverträge hatten). Seine Genialität lag wohl v.a. darin, dass er einerseits sehr offene Ohren hatte, sich auch auf Empfehlungen von Musikern verliess, über gute A&R-Leute wie Ike Quebec und später Duke Pearson verfügte … und v.a. dass er erkannte, dass da was abging in den Fünfzigern und Sechzigern, was es Wert war, dokumentiert zu werden. Er produzierte oft in sehr kurzen Abständen sehr viele Aufnahmen, einfach weil er merkte: diese Musiker muss man jetzt aufnehmen – kommerziell ging das wohl oft erst mit der Zeit auf, denn mehr als zwei LPs pro Jahr konnte man wohl von sehr wenigen Künstlern herausbringen, ohne den Markt hoffnungslos zu übersättigen (daher erschienen auch in den Siebzigern, als Michael Cuscuna nach längeren Bemühungen endlich in die Blue Note-Archive abtauchen durfte, massenhaft zuvor nie veröffentlichtes Material). Wie stark er genau in künstlerischer Hinsicht eingriff, ist wohl schwer zu sagen … aber wenn man Alben vergleicht, die Musiker auf Blue Note oder anderswo gemacht haben, spürt man das schon oft irgendwie … er hatte z.B. einen ausgeprägten Hang zum Blues, in den frühen Jahren (Blue Note wurde ja vor 75 Jahren gegründet, 1939 … Lions Partner Frank/Francis Wolff war soweit ich weiss auf einem der allerletzten Schiffe, die noch vor Kriegsbeginn aus Europa rauskamen) liess er die Musiker oftmals in „älterem“ Stil spielen, als sie das live in den New Yorker Clubs taten: blueslastiger, erdiger, langsamer, einfacher. Dass der Hardbop bei Lion auf offene Ohren stiess, war also nicht weiter überraschend, und mit den Aufnahmen der Messengers aus dem Café Bohemia und den beiden „Horace Silver & The Jazz Messengers“-Alben schuf er quasi auch gleich die ersten reifen Werke dieser Strömung, die dann beim Label bald allein den Ton angeben sollte (noch bis 1957 oder so gab es gelegentlich Aufanhmen „alter“ Jazzer wie Sidney Bechet oder George Lewis). Ich denke, Lion liess den Musikern viele Freiheiten, aber er gab zugleich eine Art Richtung vor, die sein „Produkt“ (inkl. des Sounds von Rudy Van Gelder – der ja auch für Prestige und weitere Label tätig war, aber die Blue Note-Aufnahmen klangen eben anders -, des Designs von Reid Miles, der Photos von Wolff) eben doch in vielen Fällen klar erkennbar machen.

Aber der Vergleich mit Motown hinkt auf jeden Fall … bzw. er ist vielleicht insofern angemessen, als die Musik auf Blue Note in ähnlichem Masse „freier“ war, als die auf Motown, und die Produzenten halt den jeweils „richtigen“ Approach fanden, ihr Produkt zu einer klaren Marke zu machen, die sich durch eine hohe Wiedererkennbarkeit auszeichnete.

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