Re: Motown – Hits vom Fließband

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gypsy-tail-wind
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bullschuetzWas ich bei Motown eben so frappierend finde: dass die traditionell gängige und weithin für wahr gehaltene Behauptung, wonach entschlossene Kommerzorientierung der Entwicklung einer eigenständigen künstlerischen Handschrift im Wege stehe, hier derart auf den Kopf gestellt wird.

Motown ist quasi der historische Beweis, dass musikalische Kreativität und Innovation auf allen Ebenen (instrumentalistisch, wenn man zum Beispiel an den phantastischen Bassisten James Jamerson denkt, arrangementtechnisch, songwriterisch, sounddesignerisch) möglich ist innnerhalb eines explizit, unverstellt und kompromisslos kommerziellen Settings, unter quasi industriell durchstrukturierten Produktionsbedingungen. Es gab eine Qualitätskontrolle, bei der Singles, die kein Hitpotenzial zu haben schienen, aussortiert wurden, es gab die oben erwähnten Selbstplagiierungsprinzipien, wenn eine Matrix sich als kommerziell erfolgreich erwiesen hatte, es gab schamloses Anpasslertum an aktuelle Trends (die Psychedelisierung der Temptations), es gab Reißbrett- und Fließbandproduktion, dazu Benimmkurse und Tanztraining für die Frontfiguren, im Grunde eine castinghshow-artige Ausbildung innerhalb der Firma – wenn man das so beschreibt, ist es doch im Grunde das totale Grauen, ein radikal antikünstlerisches Arbeitsumfeld, gemessen an allen geltenden Vorstellungen.

Und genau innerhalb dieses Rahmens entstand massenhaft große Musik (und ich zähle dazu ausdrücklich auch die oben genannten Aufnahmen der Supremes, Four Tops und Jackson 5). Zugespitzt könnte man sagen: Gerade die radikal kommerzielle Ambition Berry Gordys und Motowns, der auf maximale rassen- und klassenübergreifende Marktdurchdringung zielende Ehrgeiz setzte eine popkünstlerisch bahnbrechende Dynamik in Gang und spuckte einen irren Output an grandiosen Aufnahmen aus. Kommerzorientierung nicht als kunstverhinderndes, sondern kunstermöglichendes Prinzip: Das ist für mich das Faszinierende und Provozierende an Motown.

Ich sehe Deinen Punkt schon! Und man könnte das ganze eben, finde ich, mit der Handschrift von Produzenten wie Alfred Lion vergleichen. Oder mit Norman Granz und seinen schon in den späten Vierzigern die „Rassengrenzen“ sprengenden Jazz at the Philharmonic-Konzerte (die natürlich auch deshalb so wichtig sind, weil sie so viel Publikum anzogen). Aber wie ist das mit den Motown-Künstlern … von Jackson, Wonder oder dem Rebell Gaye abgesehen, wie viele konnten sich emanzipieren und (künstlerisch, kommerziell, beides) nahtlos fortfahren, wo sie unter Gordys Fittichen aufhörten? Ich weiss nicht, wohin diese Frage führt, aber im Vergleich mit dem Jazz drängt sie sich mir einfach irgendwie auf, weil mir das Korsett bei Motown doch vergleichsweise sehr viel enger vorkommt und – ich sagte es oben schon – dabei eine gewisse Gefahr der Auswechselbarkeit der Frontleute besteht – bei gleichzeitiger Beibehaltung des Ganzen. Ich frage mich einfach, ob es bei Motown am Ende nicht vergleichsweise sehr viel stärker um ein „Produkt“ ging als um einzelne Künstler?

bullschuetzEntschuldigung, wenn das jetzt so unjazzig offtopic geworden ist. Aber vielleicht könnten jazzkompetente Leute das weiterdenken: Ist eine offensiv kommerzverächtliche Haltung wirklich immer kunstförderlich? Ist es nicht gerade auch im Jazz ein Problem, dass er weithin als elitäre Musik wahrgenommen wird und dass ihm der Ehrgeiz nach Massenappeal ziemlich abhanden gekommen zu sein scheint?

Das sind natürlich interessante Fragen … und wie ich schon anderswo in diesem Thread schrieb, ich würde niemals kausale oder sonstwie direkte Korrelationen herstellen wollen. Gerade im Jazz bleibt vieles zu unberechenbar, mit Marketing und mittelmässig viel Talent gelangt man vielleicht an einen gewissen Punkt, aber dann ist Schluss. Mit Unmengen von Talent und ohne Marketing gelangt man vielleicht gar nie irgendwohin … aber die Frage ist doch auch, wen es denn kümmert, dass der Jazz („den“ Jazz gibt es eh seit 1965 nicht mehr) diesen Ehrgeiz nicht mehr hatte. Es waren ja gerade die Musiker selbst, die in den Vierzigern damit begannen, sich vom Massenpublikum abzuwenden und neue Formen des Ausdrucks zu suchen. Ich glaube nicht, dass heute einer sich entschliesst, Jazzmusiker zu werden mit der Absicht, ein möglichst breites Publikum anzusprechen (das gelingt höchstens in Randbereichen, Jamie Cullum, Trombone Shorty, was weiss ich, die machen ihr Ding, sie machen es wohl auch gut, aber ich bin auch ganz froh, wenn ich es mir nicht regelmässig anhören muss).

Das hatte redbeans oben auch schon erwähnt, es gibt halt Sachen, die mehr Publikum ansprechen als andere, auch innerhalb des Jazz. Ich gehe heute Abend zu Colin Vallon, mal sehen, wieviele Leute er in Zürich inzwischen anzulocken imstande ist, beim ersten Konzert seines Trios vor sechs oder sieben Jahren waren es wohl gerade mal 30 oder 40, darunter aber auch KollegInnen wie Irène Schweizer, die das junge Talent auschecken wollten … und ich bin mir sicher, dass Irène sich einen Dreck darum schert, ob Colin tausende Stunden geübt hat und die Regeln des gepflegten Arrangements beherrscht … worum man sich aber schert – ich schliesse mich da mit ein – ist doch, dass man spürt, dass da einer ist, der Ideen hat und die Mittel, diese Ideen in Musik umzusetzen … und dass einen das Resultat irgendwie berührt, dass es gemessen an seinen Ansprüchen, wie sagt man, wasserdicht ist (auf Züridütsch: dass es verhebbt – hat nichts mit Ebbe zu tun, gibt’s im Zürisee nicht) … und wenn man das alles eben nicht spürt, geht man ans nächste Konzert wohl nicht mehr. Jazzkonzerte, bei denen man Ansprüche zu spüren glaubt, das Bemühen der Musiker, ihnen gerecht zu werden fast mit Händen greifbar ist – aber es nicht reicht … das finde ich sehr schmerzhaft. Auch Jazzkonzerte, bei denen einen das Gefühl überkommt: Das ist alles nur Floskel, gekonnt gemacht, oft so gut verschleiert, dass man die Leere kaum bemerkt … oder eine Pose, die auf etwas beruht, was einer vor zehn, zwanzig Jahren mal richtig empfunden hat …. das tut weh, das will man nicht hören. Andererseits, das oben auch schon erwähnte Konzert vor 13 Leuten mit Barry Altschul, das war das Quartett von Steve Swell und Gebhard Ullmann (mit Hill Greene am Bass – die vier spielten ein phantastisches, ca. 70minütiges Set für diese 13 Leute. Das ist wohl auch Old School: jetzt sind wir hier, ihr seid hier, wir können alle nichts dafür, dass nicht mehr hier sind, wir machen das jetzt einfach. Haltung.

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