Re: Motown – Hits vom Fließband

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bullschuetz

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Was ich bei Motown eben so frappierend finde: dass die traditionell gängige und weithin für wahr gehaltene Behauptung, wonach entschlossene Kommerzorientierung der Entwicklung einer eigenständigen künstlerischen Handschrift im Wege stehe, hier derart auf den Kopf gestellt wird.

Motown ist quasi der historische Beweis, dass musikalische Kreativität und Innovation auf allen Ebenen (instrumentalistisch, wenn man zum Beispiel an den phantastischen Bassisten James Jamerson denkt, arrangementtechnisch, songwriterisch, sounddesignerisch) möglich ist innnerhalb eines explizit, unverstellt und kompromisslos kommerziellen Settings, unter quasi industriell durchstrukturierten Produktionsbedingungen. Es gab eine Qualitätskontrolle, bei der Singles, die kein Hitpotenzial zu haben schienen, aussortiert wurden, es gab die oben erwähnten Selbstplagiierungsprinzipien, wenn eine Matrix sich als kommerziell erfolgreich erwiesen hatte, es gab schamloses Anpasslertum an aktuelle Trends (die Psychedelisierung der Temptations), es gab Reißbrett- und Fließbandproduktion, dazu Benimmkurse und Tanztraining für die Frontfiguren, im Grunde eine castinghshow-artige Ausbildung innerhalb der Firma – wenn man das so beschreibt, ist es doch im Grunde das totale Grauen, ein radikal antikünstlerisches Arbeitsumfeld, gemessen an allen geltenden Vorstellungen.

Und genau innerhalb dieses Rahmens entstand massenhaft große Musik (und ich zähle dazu ausdrücklich auch die oben genannten Aufnahmen der Supremes, Four Tops und Jackson 5). Zugespitzt könnte man sagen: Gerade die radikal kommerzielle Ambition Berry Gordys und Motowns, der auf maximale rassen- und klassenübergreifende Marktdurchdringung zielende Ehrgeiz setzte eine popkünstlerisch bahnbrechende Dynamik in Gang und spuckte einen irren Output an grandiosen Aufnahmen aus. Kommerzorientierung nicht als kunstverhinderndes, sondern kunstermöglichendes Prinzip: Das ist für mich das Faszinierende und Provozierende an Motown.

Entschuldigung, wenn das jetzt so unjazzig offtopic geworden ist. Aber vielleicht könnten jazzkompetente Leute das weiterdenken: Ist eine offensiv kommerzverächtliche Haltung wirklich immer kunstförderlich? Ist es nicht gerade auch im Jazz ein Problem, dass er weithin als elitäre Musik wahrgenommen wird und dass ihm der Ehrgeiz nach Massenappeal ziemlich abhanden gekommen zu sein scheint?

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