Re: 22.09.2013

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otis
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nepumukDer politische und kulturelle Pessimismus, den otis angekündigt hat und auch Tigers Reaktion klangen für mich nach einer umfassenderen Diagnose. Was die Vielfalt der Singles betrifft, kann ich mir kein Urteil erlauben, wobei otis selbst ja auch angesprochen hat, dass vieles passiert ohne von ihm wahrgenommen zu werden. Ich registriere auch nur sehr begrenzt, was sich online an musikalischer Experimentierfreude so versammelt, kann mir aber nicht vorstellen, dass angesichts der kaum vorhandenen Hindernisse, Musik zu veröffentlichen, tabula rasa herrscht. Oder ist Single notwendig eine 7inch? Da hat sich doch einfach was verschoben, wobei durch die nicht vorhandenen Zugangsmöglichkeiten natürlich keinerlei Filterfunktion mehr existieren und es komplett unübersichtlich ist.

Es geht um eine komplette Verschiebung. Ich habe das oben in einem Post angedeutet. Natürlich kannst du dir heute eine Unzahl von Tracks online anhören, womöglich gibt es derzeit viel mehr, wenn man denn will, zu hören und zu bestaunen als damals. Aber das alles hat keine Bedeutung mehr, zumindest keine umfassende und (kultur)politisch in irgendeiner Weise formative. Wen interessiert es denn noch brennend, wenn heute in Watford oder wo auch immer irgendeine durchgeknallte Band ihr Statement zur Zeit veröffentlicht? Kaum jemanden, damals war das spannend, jeder hatte irgendwie, irgendwo und auf irgendeine Weise was zu sagen. Dass vieles davon Müll war, geschenkt. Aber wenn ich irgendwo was drüber gelesen habe, wollte ich die schrägsten Sachen haben, teilhaben an diesem Prozess.
Du sprichst von einer freieren und emanzipierteren Gesellschaft. Mag sein, auf den Einzelmenschen für sich gesehen mag das zutreffen, aber ob auf die Gesell-/Gemeinschaft, das sei dahingestellt. Dabei meine ich nicht NSA und solchen Unfug, sondern das grundsätzliche Klima, was kulturelle und politische Veränderungen anbelangt. Klar kann man sich mit etwas mehr vermeintlicher Freiheit (du müsstest mir auseinanderklamüsern, wo sich die denn zeigt) gut gebettet und wohl aufgehoben fühlen, aber was ist der Preis? Sattheit und privatistische Events vs. gemeinschaftliche und dynamische Bewegung nach vorn.

Noch einmal: Ich bedaure nichts, es ist der Zug der Jetzt-Zeit. Ich bin der letzte, daran etwas zu ändern. Aber was Dynamik betrifft, Aufregung, Neugier, kulturelle und politische Power, sind wir heute zu einem bedenkenswerten Stillstand gelangt.
Die Sattheit und Wohlversorgtheit (es gibt ja alles und gleich tausendfach im Netz) lässt in der Breite erlahmen und vermerkelt das Denken. Und wenn die CDU die Toten Hosen anstimmt, so graut es nur noch. Nicht dass die Düsseldorfer sich Besseres verdient hätten, aber gewünscht hatte man es sich damals sehr wohl für die kleine Anarcho-Truppe ZK.
Was bleibt? Die Musik halt und die Erinnerung daran. Deshalb nochmal danke für die Sendung.

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