Re: Alice Coltrane (1937-2007)

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vorgarten

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RADHA – KRSNA NAMA SANKIRTANA (1977)

When those chants are sung I don’t tell them, if you don’t sound like India, forget it. I don’t say such a thing. Sing the chants the way you feel about singing them. Sing from your heart and spirit and that’s what you get. A number of people that were members or disciples at the vedantic center had that background, like a southern kind of background and the experiences in the baptist church. So you begin to hear that. So the music that I play basically complemented that. Because, also, my background in this lifetime, I had extensive experience playing for various churches for all kinds of faiths. The adventists, the methodists, the baptists. I had a great time playing in Detroit in the various churches so I had that experience.

(alice coltrane nach berkman: 102)

alice coltranes 1977 entstandene alben RADHA – KRSNA NAMA SANKIRTANA und TRANCENDENCE sind dokumente eines rückzugs. sie reflektieren ihre zu diesem zeitpunkt alltägliche spirituelle praxis, ein großteil des materials besteht aus bhajans, also religiösen kollektivgesängen, von coltrane sparsam mit orgel, fender rhodes oder klavier begleitet. mitglieder oder besucher ihres ashrams sind zu hören, die meisten von ihnen haben einen wahrnehmbaren afroamerikanischen hintergrund. die percussion kommt von den sängern selbst, handklatschen, tamburine, triangeln sind im rhythmus, in der bewegung, der atmung des chores eingesetzt.

bhajans sind im zuge des hindu-revivals im indischen mittelalter (600-1500) entstanden, sie werden im kontext des bhakti-rituals eingesetzt. die praxis ist die des gemeinsamen ekstatischen singens, um eine persönliche beziehung zu gott (im rituellen sich-verlieren) aufzubauen. die texte sind tradiert und fixiert, die musikalische gestaltung völlig flexibel – nicht wenige bhajans sind auf der grundlage von populären melodien entwickelt oder aus bollywood-filmen entlehnt worden.

auf der ersten seite von RADHA – KRSNA NAMA SANKIRTANA erinnert bei aller leidenschaftlichkeit der gesänge nicht wirklich viel an fernöstliche musikformen. in nicht wenigen momenten fühlt man sich in einen katholischen gottesdienst versetzt – vieles ist in dur gehalten, manchmal kommt fast weihnachtsstimmung auf. außer in einigen intros und outros ist alices beitrag dazu ausschließlich grundierung – sie spielt die melodien mit, der bass unterliegt ihren akkorden wie den gesängen. die form ist einfach – laut berkman folgen die bhajans eher gospel-mustern (AB-formen, call & response) als klassischen hindi-hymnen. an unerwarteten orten hört man plötzlich bekanntes, z.b. ein motiv, das man aus einer 90er-jahre-courtney-pine-cd kennt („prema muditha“). zur abwechslung ist eine kurze harfenimprovisation eingestreut („ganesha“), die leider überhaupt nicht mit der rhythmischen vorgabe der tambura zusammenläuft.

diese tambura wird von alice coltranes tochter michelle, später mikki, hier „sita coltrane“ genannt, gespielt. auf dem einzigen stück auf seite B, „om namah sivaja“, sitzt der 12-jährige sohn john jr. (hier „arjuna“ genannt) an den drums. auch das ein indiz des rückzugs – die alben werden mit dem hauseigenen chor und mitgliedern der familie eingespielt – keiner der vielen tollen drummer aus alices karriere wird bemüht.

john jr. macht seine sache gut – für einen zwöfjährigen. im gegensatz zu denardo coleman, den sein vater ornette schon mit neun als schlagzeuger engagierte, kann er den takt halten und findet durchaus zu einigen schönen details (jeder musiklehrer würde wahrscheinlich sofort das talent erkennen). was seine mutter hier allerdings mit ihm anstellt, ist einerseits toll (sie lässt ihn sich 19 minuten lang gleichberechtigt austoben), andererseits beinahe unverantwortlich: da sie selbst dazu neigt, in ihren soloexkursen aus dem vereinbarten rhythmus auszusteigen, lässt sie ihn für einige momente völlig hilflos in der luft hängen. was hier auf den 19 minuten passiert – auf der grundlage eines großrtigen ohrwurm-riffs – ist ziemlich spektakulär. da ist einiges an leerlauf dabei, es gibt aber auch mindestens drei momente völlig delirierender höhepunkte, in denen sich die orgel in einen rausch spielt. john jr. spielt break um break, während seine mutter sich ins nirwana verabschiedet. ihr wechsel zwischen den registern ist ziemlich eigenartig und spannend – oft benutzt sie für einzelne basstöne andere sounds als in den läufen, manchmal ändern sich die sounds aber auch mittendrin komplett. warum das alles so ausgedehnt sein muss und ob nicht doch besser z.b. ben riley hätte gefragt werden sollen, mag dahingestellt sein. ich weiß, dass nicht wenige dieses album aufgrund gerade dieses stücks sehr lieben. mich überzeugt es nicht völlig – zumal, wenn man (wie im späteren TRANSFIGURATION zu hören) weiß, wie das ganze mit einer richtig guten rhythmusgruppe abgehen kann.

john jr. ist, soweit man das recherchieren kann, später auf bass gewechselt, allerdings 1982, mit 18 jahren, bei einem autounfall ums leben gekommen.

TRANSCENDENCE (1977)

eröffnung mit harfe und streichquartett. „radhe-shyam“ hat einen offenen gestus, die wehmütigen streicherakkorde lassen viel luft für die interventionen der harfe, ein komplexes solo lässt die streicher zunächst ganz verstummen, später kommen sie mit einer dramatischen, verhallten glissandi-studie zurück, die wie ein aktueller elektronikloop klingt. auch wenn man sich mit alice coltranes eklektischen klangkosmen auskennt, ist das hier etwas neues. rätselhaft und toll, wie sich die harfe mehr und mehr in den streicherloops verliert.
auf TRANSCENCE, das noch intimer, aber auch geheimnisvoller ist als das schwesteralbum davor, ist die erste seite den coltraneschen eigenarten gewidmet – auf seite B kommen dann die bhajans mit dem ashramchor und auch hier hält sich coltrane wieder begleitend zurück.
die tambura-drone-studie „vrindavana sanchara“ bestreitet sie komplett selbst (mit tambura, harfe und percussion in overdubs), sie macht hier viel mehr sinn als das zusammenspiel mit ihrer tochter auf RADHA KRSNA.
mit dem titelstück „transcendence“ kommt das streichquartett wieder. diesmal hat man nun komplett den eindruck eines impressionistischen stücks. indien liegt plötzlich ganz weit weg – bis die streicher wieder erst im glissandi landen, dann im hall, dann verschwinden. indien? frankreich? spanien? die quellen sind rätselhaft, auch der gestus: ist diese musik auf- oder abregend, fröhlich oder traurig?

beinahe erlösend wirkt da der beginn der zweiten seite, wenn sich die orgel meldet, die ashram-vorsängerin und ihr response-chor. hier ist man wieder tief im gospelgroove, auch wenn in fernöstlicher zunge gesungen wird. ein eingängiges motiv, improvisierte verziehrungen, darunter ein auf- und abschwellendes, in die lücken fließendes orgelgrummeln, vollkommen reduziert, entspannt, hypnotisch.
auf „ghana nila“, das seine eintönigkeit in die endlosschlaufe schickt, hat man danach gleich die kehrseite der methode und denkt sich: naja, wenn sie beim singen daran spaß haben… „bhaja gowindam“ macht wiederum auch mir spaß, da der gesang hier mit einem aufreizend querlaufendem percussionteppich kombiniert wird. es scheint auch fast so, dass hier alle mit vollstem bewusstsein austesten, wie weit man bhaja und gospel fusionieren kann – speziell alices orgel verhält sich dazu störrisch und mag keine ambivalenzen klären.
der closer „sri nrsimha“ schließlich funktioniert wie der seite-b-opener „sivaya“ ganz wunderbar als hypnotisches mantra mit überraschendem b-teil, variationen der percussion und dem leidenschaftlichen gesang des chors, der sowas sicherlich stundenlang ekstatisch aufbauen und weiterlaufen lassen könnte.

RADHA KRSNA SANKIRTANA und TRANSCENDENCE sind eigentümlich genügsame alben, sich selbst genug sozusagen. sie adressieren sich nicht mehr an ein hörendes publikum, scheint es. sie bleiben dokumente des glücks ihrer herstellung, ob mit chor oder familie – oder sie ziehen sich vollkommen in einen rätselhaften klang- und erfahrungsraum zurück, wie die harfen&streicher-reaktionen. wie hat man sowas 1977 gehört?

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