Re: Alice Coltrane (1937-2007)

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vorgarten

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ETERNITY (1976)

in the late 1960s and early 1970s, what were the social expectations for an african american jazz musician from detroit, a baptist woman from a conservative middle-class family, a mother of four? surely alice was not expected to become an avant-garde improviser, let alone a swamini. and whatever these expectations may have been, they must have been complicated by her position as a black public figure during a period of heightened racial tension and african american cultural nationalism – not to mention by the responsibility of being the widow of john coltrane. alice’s personal and mystical relationship with the divine appears to have provided the direction and strength that she needed to transcend social expectations, skepticism, and criticism, and chart her own creative path.

(berkman: monument eternal. the music of alice coltrane, middletown 2010, s.12)

alice coltrane nutzt ihren neuen labelvertrag, um quasi ein inventar ihrer bisherigen entdeckungen aufzunehmen. sechs stücke, sechs ästhetische voraussetzungen und keine davon wirklich musikhistorisch vorbereitet. vom einem blues mit streichern über eine introvertierte harfen-reverie, ein dreckiger latin-gassenhauer, ein erster ihrer zutiefst originellen bhajans (hindugesänge, bei ihr allerdings auf gospel-basis), ein free-rubato über tambura-drones, schließlich eine sechsminütige neubearbeitung von strawinskis SACRE DU PRINTEMPS.

some people thought that she was reilly weird and far out. some people thought richard nixon was really far out! … warner brothers wasn’t really crazy about it. they were much ‘pop-ier.’ they knew ylice was selling and wondered why she was doing something different. i would get calls from various people, ‘hey why don’t you do this und why don’t you do that?’ and, of course, i would reply, ‘why don’t you do this and why don’t you do that and leave me alone! leave my artist alone! you signed my artist, someone else will sign my artist!

(alices produzent ed michel, nach berkman, 91).

spiritual eternity” fängt mit einem orgelintro an, in das quasi aus dem nichts ein 30-köpfiges orchester aus streichern und bläsern einfällt, darunter sind leute versteckt wie oscar brashear, jerome richardson und hubert laws. auf gerade mal drei minuten entrollt sich ein eingängiges blues-thema, gestützt von hadens bass und rileys träger becken-arbeit, das durchaus genug substanz hätte, um eine plattenseite zu füllen. aber nur die orgel soliert, große kirchenoper, dreckiger wurlitzerkniefall. kaum ist der bombast verhallt, kommt das zweite stück, „wisdom eye“, harfe solo (wahrscheinlich + harfe overdub) hinein (die stücke sind behutsam ohne pause ineinandergemischt). wahrscheinlich der höhepunkt von alices harfen-improvisationen – ein faszinierendes kleines thema, in einzelnoten, dann emanzipiert sich die linke hand – und plötzlich kommen soundflächen hinein, verwischte akkorde, dazu abgestoppte aufwärtsläufe, das thema verliert, das ganze stück enthebt sich. ein mikro-kosmos auf drei minuten.
was dann kommt, traf mich ziemlich unvorbereitet. „los caballos“ ist ein afrokubanischer funk mit „manteca“-ähnlichem thema, sehr catchy, sehr dreckig. hadens bass dazu der himmel auf erden. riley hat verstärkung durch den santana-percussionisten armando peraza, außerdem spielt noch ein „friend“ timpani. nach der sexy-trägen themenvorstellung gibt es ein kurzes timpani-solo und die band spielt das thema in doppelter geschwindigkeit. erste solopassagen von alice, mit ausgiebigem gebrauch des wurlitzer-tonpitching-features. dann wieder timpani solo und die band kommt endlich im halsbrecherischen endtempo an. die folgende improvisation ist unglaublich, rasend schnell, völlig verschroben durch die verzogenen einzeltöne, schließlich eine free-kaskade, die klingt wie ein kaputtgehender spielautomat (und phasenweise wie R2D2). danach gibt es percussionsoli, dann ein solo von haden, der am ende wieder das thema vorstellt, in der trägen anfangsvariante. etwas so weltlich dreckiges hätte ich alice coltrane zu diesem zeitpunkt nicht mehr zugetraut.

noch eigenartiger dann „OM supreme“, wo sich nach einem tollen, dreiminütigen r&b-fender-rhodes-intro (mit viel dreckigen tieftönen, am ende dann einer arpeggio-kaskade im hohen bereich) sechs klassische sänger und sängerinnen zu wort melden und erst „california“, dann verschiedene hinduspirituelle orte („lokas“) beschwören. das ganze zunächst als call & response (männer//frauen) auf blues-basis, später in einer langen dur-coda. das funktioniert sehr schön, man geht ein bisschen in diesem mantra und den warmen e-piano-klängen verloren. später wird alice nur noch ihren ashram-chor singen lassen (die in afro-amerikanischer besetzung viel näher am gospel sind) – die reibung mit den klaren, klassisch geschulten stimmen hier ist aber auch nicht ohne reiz.
morning worship“ ist eine schwache brücke zum strawinski-finish, ein dreieinhalb-minütiger tambura-drone, darüber freie improvisationen – es klingt wie ein intro, wird aber ausgeblendet – wahrscheinlich der plattenlänge geschuldet. hier, wo alice nah am letzten john-coltrane-quintet agiert, bleibt der überraschungseffekt aus. aber ein eigenständiges stück ist das auch nicht.
der „feuervogel“ am ende ist natürlich nochmal ein hit. ein quasi fernöstliches intro, dann plötzlich die bläser aus dem anfangs-blues, auf fagott und flöte umbesetzt, die streicher hart dazwischen. nach dem großen rhytmusdelirium aus dem finale spielen hier alle frei, entrückt, in heiliger kakophonie. auch wieder eine reise in sechs minuten. „Her faithfulness to the material with a complete orchestra under her control is one of shimmering transcendence that places the composer’s work firmly in the context of avant-jazz. Her control over the orchestra is masterful, and her reading of the section’s nuances and subtleties rivals virtually everyone who’s ever recorded it. ETERNITY is ultimately about the universality of tonal language and its complex expressions”, schwärmt thom jurek auf allmusic.

niemand habe einen solch eklektischen geschmack, um solch ein album wertzuschätzen, meint franya berkman im hinblick auf den schwierigen einstand von alice bei warner. mir gelingt das ganz gut, zumal ich jedem stück trotz der hohen originalität sehr viel eigenes abgewinnen kann. es ist schon beeindruckend, aus wieviel quellen sich alice coltranes musik speist und in wie vielen ästhetischen sprachen sie spricht. berkman wagt die feministische these, dass coltranes hybrider, aber nirgends ironischer ansatz aus dem problem herzuleiten ist, dass schwarze frauen zu dieser zeit keine stimme gehabt hätten, mit denen sie freiheit hätten kommunizieren können. „black women must speak in a plurality of voices as well as in a multiplicity of discourses.“ (13) um nicht ständig an irgendetwas außersubjektivem gemessen zu werden, muss man den sprung wagen aus allen irdischen relativierungen: das hybride material und „her self-proclaimed mysticism disrupt (…) relational modes.“ (14)

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