Re: Alice Coltrane (1937-2007)

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LORD OF LORDS, 2. versuch

in den letzten tagen lässt mich diese aufnahme nicht mehr los. sehr hartnäckig schreibt sie sich ein in das grundgefühl eines tages, beunruhigend und beruhigend zugleich. komplex ist das alles nicht, aber sehr ernst, wie die streicher, die vom sonoren unisono plötzlich in flirrende fernöstliche kratztöne abheben. aufgekratzte musik, sozusagen. die klassischen, geborgten melodien sind genausowenig fluchtpunkte wie die dissonanten free-ausbrüche, gleichsam scharniere zum nächsten bewusstseinsraum. das zweite stück, „sri rama ohnedaruth“, ist vergleichsweise kurz, aber besonders beeindruckend. zu den sich überlagernden flächen kommt eine auf- und eine abwärtsbewegung dazu, in drei-ton-schritten, abwechelnd, hoch runter hoch runter, am ende parallel und leiser werdend. bewegter stillstand, ewige unauflösbarkeit. der großneffe, flying lotus, hat dieses stück einfach eingebaut in seine sachen. zu LORD OF LORDS hat er eine eigene theorie:

For me, this record is the story of John Coltrane’s ascension. It’s her understanding and coping with his death. I feel that. This song in particular, “Going Home,” that’s a family song. When someone passes, that’s the song we play at the funeral. When my auntie passed, we played that one. My mom died last year in October, and in making this record, hearing this sound, I went “that’s it.” That’s the whole journey, the whole thing, of understanding, and going deeper within. For me at least. It made sense. This is that journey through that astral life, the next place. On all levels. You die and there’s still so much to go through. It’s not a quick thing. You have to work and understand that you die and what it’s like to die and see yourself in the world without you and a whole bunch of things.

von hier.

und alice selbst, im wire-interview:

That record was so special to me because practically every aspect of it is like a meditation, and the [cover] photograph was so unlike any one ever taken. It was the expression, it was what appeared to be the underlying substance of some higher energy vibration. When I looked at it I could see it was more like identifying with the soul than it was with the external person’s features or anything like that. And then the music became a meditation where each selection told its own story. Although it’s one that you can write down, I sometimes think things are better left in that realm of mystery or the unknown.

[zwischenstopp, ein schritt zurück]
JOHN COLTRANE / ALICE COLTRANE: INFINITY (1972)

eine völlig überraschende wiederbegegnung. das hatte ich eigentlich auch gehofft. vor ewigkeiten habe ich INFINITY mal gehört, in meiner ersten john-coltrane-phase, in der ich nach den 1961er village-vanguard-aufnahmen (also „india“ z.b.) direkt in die spätphase gestolpert bin. vor allem EXPRESSION hat mich damals sehr bewegt, nicht zuletzt daher kommt meine verehrung dieser pianistin. in dem zusammenhang tauchte dann mal INFINITY auf und ich fand es überhaupt nicht merkwürdig, dass da plötzlich streicher waren und harfen und kesselpauken, denn sowas wie OM oder KULU SE MAMA waren ja auch schon hybrides zeug, wo sich expressivität aus einem soundgeflecht heraus entwickelt, das offensichtlich genauso ernst gemeint war wie die himmelwärts gerichteten sax-ausbrüche von coltrane und sanders.

jetzt, wo ich INFINITY wiederbegne, im kontext der streicherphase von alice coltrane (die overdubs, also die eigentliche albumproduktion, passierten zwischen WORLD GALAXY und LORD OF LORDS, mit den gleichen orchestermusikern und charlie haden, also quasi in der gleichen besetzung wie LORD OF LORDS), scheint sie mir 100%ig als album von alice coltrane, in der ihr verstorbener mann und verschiedene musiker in seinen bands nur farben sind, einzelne stimmen, die innerhalb ihres soundaufbaus mal collagiert, mal übermalt, auch (aber selten) übertönt werden. wäre die tontechnik weiter gewesen damals, hätte ein völlig verwirrendes palimpsest entstehen können, bei dem man die schichten nicht mehr einzeln hätte voneinander ablösen können. alice coltrane hat nicht einfach streicher über fertige jazzaufnahmen gelegt – sie hat sie in jedem stück unterschiedlich eingesetzt, hat einzelne soli mit anderen konstrastiert, eigene intros und überleitungen eingespielt, einen zusammenhängenden remix hergestellt, in dem alles einzelne zum teil eines größeren ganzen wird.

im close reading fällt erst auf, wie facettenreich das gemacht ist. teil eins der suite, „peace on earth„, hat als grundlage ein stück aus alices erster session mit ihrem mann (vom 2.2.1966). zunächst einmal gibt es eine dramatische einleitung, in der sie auf vibes und harfe zu hören ist. die streicher deuten schon eine schärfe an, die gleichzeitig eingebunden wird in offene harmonien – dann kommt die tenorsax-stimme john coltranes hineingeschwebt, hymnisch, zudringlich. die streicher verstärken, im hintergund raschelt ali darum herum, charlie hadens overgedubter bass drängt. am ende des themas erscheint ein neues, harmonisches streichermotiv, das mantra-artig wiederholt wird. die harfe übernimmt und alice spielt, nur von haden begleitet, ein in bass (akzente der einen) und arpeggien (festgestellte akkorde der anderen hand) gegeneinanderlaufendes solo – ein teil will weiter, ein anderer will bleiben. erlösung kommt durch die wieder einsetzende sax-stimme, die plötzlich alles in bewegung bringt. sax und streicher scheinen sich tatsächlich zu antworten, die illusion ist komplett. alice coltranes beitrag kommt am ende wieder in form des neuen streichermotivs hinein, die die hymnische grundstimmung ins dunkel zieht, oder – wenn man so will – in eine andere umlaufbahn.

living space“ ist ursprünglich aus einer etwas vernachlässigten session des klassischen quartetts (16.6.1965), in der gleichwohl großartige musik entstanden war. alice hatte zwei takes dieses stücks zur verfügung, die macht ein von john coltrane zweistimmig gespieltes thema daraus, das dunkel und ahnungsvoll spannung aufbaut. die streicher begleiten eng am thema, mit einigen spärlichen fills. außerdem ornamentiert die harfe (virtuell mit einem paukenden elvin jones zusammen), während eine neue tambura virtuell mit jimmy garrison den grundton dröhnen lässt. sobald das klassische quartett in die improvisation eintaucht, ziehen sich die streicher auf wenige unterstützende akkorde zurück, alice coltrane selbst und die tambura verstummen. das dunkle der streicher geht fantastisch mit den mollakkorden tyners zusammen. nach einem ersten höhepunkt von coltrane auf dem sopran verstummen aber auch die streicher und nur die tambura bleibt als zusatzklang übrig. („india“ kommt einem ins ohr). dann hört man tyner, garrison und jones, mit dem auf- und abschwellenden drone des indischen instruments, bis john coltrane auf einem noch höherem energieniveau wiedereinsteigt. zum thema kommen dann wieder die streicher, die vorhin so bewegte luft bleibt stehen. alles endet in einer flirrenden coda von coltrane, als ausatmer von den streichern aufgegriffen.

joy“, ebenfalls aus der 1965-session, ist eine flexible bewegung durch die welten der beiden coltranes. es beginnt luftig mit harfe und vibes, dann kommt ein repetitives, flirrendes streichermotiv mit rhythmisch dazu querlaufendem bass (haden). dann folgt ein bollywoodeskes, harmonienseliges streichermotiv mit umspielender harfe, das aber auch in einem cluster hängen bleibt – und dann setzt mit einem paukenschlag john coltranes tenor ein, mit jones, tyner und garrison – die streicher bewegen sich leicht irre in glissandi an dieser band entlang. nach dem thema kommt der große virtuelle auftritt von jimmy garrison. er spielt ein langes, anfangs noch von jones begleitetes, dann unbegleitetes solo, dass dem indischen auftakt seinen klassischen flamenco entgegensetzt. in einer repetitiven schlussfigut kommen die streicher wieder, dann der rest des quartetts, sie machen ein wenig weiter im akkordschema, während coltrane sich ins nirwana steigert. die glissandi der streicher erscheinen dazu improvisiert, setzten die musik aber zusätzlich schweißtreibend unter druck. coltranes solo wandert etwas, verliert sich im hintergund, wird plötzlich leiser, während die streicher auf einem unheilvollen ton stehen bleiben. am ende des stücks ergreifen sie mit einem wuchtigen unisono-akkord noch mal das wort.

leo“, das es nur in dieser, overdubten, version gibt, ist vielleicht die größte herausforderung an den john-coltrane-fan. von ihm selbst angezählt, fliegt das stück als abstraktes kürzelmotiv zum treibenden swing von rashied ali los, in atemberaubendem tempo. alice liebt dieses stück, es ist 1978 der höhepunkt von TRANSFIGURATION und noch auf ihrer allerletzten aufnahme hat sie es mit ravi zusammen neu eingespielt. hier ist zwar ihr klavier (in der band mit sanders, garrison und ali) zu hören, doch ich weiß nicht genau, ob es nicht auch neu eingespielt wurde. john coltrans solo wird aus dem stegreif abstrakt, driftet in dramatische kreisbewegungen, plötzlich antwortet er sich selbst mit einer bassklarinette, die nochmal mehr will – die streicher pausieren, hadens bass drängt wie bei ornette coleman – doch plötzlich verschwindet das solo und alles andere verstummt auch. es folgt ein kesselpauken-solo, das wirklich grandios ist. alice spielt es, mit gedämpften, abgestoppten, sich ausdehnenden akzenten. dunkle melodien werden evoziert – über die plötzlich (eingefaded) eines der dramatischsten, wildesten klaviersolos, die ich von ihr kenne, gelegt wird (aus der originalaufnahme, schätze ich). man bleibt völlig in der klangwelt des späten john coltrane dabei. dann verschwindet das klavier und zur immer noch präsenten kesselpauke gesellt sich alices trademark-wurlitzer-sound. der zwischen zwei akkorden wechselnde orgelbass wird irgendwann durch ihre blueslinien aus den angeln gehoben – doch es folgt eine neue passage, eingeleitet durch frei imrpovisierende streicher, leises klavier, nach wie vor kesselpauke, schließlich einer wilden miniatur von pharoah sanders (oder ist das auch coltrane?). es folgt das thema, ein paar irre gewordene streicher, immer noch die dunkel strukturierende pauke – und ein abschließender, hochdramatischer streicherausklang.

deutlich geworden ist hoffentlich die vielfalt dieses ansatzes, verschiedene ebenen zusammenzubringen zu einem aufregend bewegtem klangraum. alice hätte es sich einfacher machen können – es gibt ja genug rubatoballaden von coltrane, auch späte, „welcome“ zum beispiel. doch sie hat keinen teppich darüber gelegt, sondern die stimmen in einzelteile zerlegt und neu zusammengebaut: die methode funktioniert mal als collage, mal als verschmelzung, mal als bewegung durch verschiedene klangwelten.

monoton hat, glaube ich, einfach mal geschrieben, dass er dieses album liebe. ich glaube, so einfach kann das auch sein. ohne diese merkwürdigen kontexte (darf man sowas? darf ausgerechnet SIE das?) lässt sich wohl ein ganz einfacher, schwärmerischer zugang zu diesem werk finden – zumindest respekt vor dem unendlich vielen, was dort passiert.

alice selbst begreift INFINITY als gemeinschaftswerk:

Infinity?

„Some people didn’t like the addition of strings. They said, ‚We know that the original recording didn’t have any strings, so why didn’t you leave it as it was?‘ And finally I made a reply because they don’t know what we were talking about, about music or architecture or biology, you name it. They don’t know when or where… They don’t know what happened or transpired between myself and John. So when they would give an opinion I just replied, ‚Were you there? Did you hear his commentary and what he had to say? Are you aware of it?‘ So it just became something that I consider didn’t require an answer.“

It was a very personal statement.

„We had a conversation about that piece and about every detail. We had a long talk about it and we were talking about the dimension of things, and he was showing me how the piece could even include other sounds, blends, tonalities and other resonances such as strings. So that’s how it happened, and I’ll tell you it teaches living space, and we had a very lengthy and wonderful talk about it. He talked about cosmic sounds, higher dimensions, astral levels and other worlds and realms of music and sound that I could feel.“

auch aus dem wire-interview.

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