Re: Alice Coltrane (1937-2007)

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gypsy-tail-wind
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Ich erlaube mir mal, das ganze etwas andersherum anzupacken – chronologisch nämlich, in der Hoffnung, die eine oder andere Facette und natürlich vor allem ein paar weitere Eindrücke ergänzen zu können. Ich werde gerne Deinen Durchgang kommentierend und ergänzen begleiten, kann allerdings in Sachen Alben längst nicht mithalten, von Gibbs habe ich z.B. nur gerade das eine, das Du neulich im BFT vorstelltest, und auch sonst habe ich gewiss einige Lücken (bin mir aber nicht sicher, wie gross sie sind, da ich mich bisher nie systematisch um Alice C. kümmen mochte).

März 1967 – „Altruvista“ (p-solo; „A Monastic Trio“, Bonustrack der CD-Ausgabe von 1998)

Nun, ob das komplette Musik ist? Die Musik scheint mir nicht sehr geerdet zu sein, die linke Hand geht kaum je in die Tiefe, der Boden ist eher eine Mitte und der Drang geht – und das kann man wohl mit Coltrane*) verknüpfen und mit der spirituellen Suche, die die beiden verband.

Ein kleiner Exkurs zu den Namen: ich schreibe immer einfach nur „Coltrane“, wenn ich John C. meine – eine alte Gewohnheit, die ich mir im Alice C.-Thread wohl vorübergehend abgewöhnen sollte, aber das dürfte schwierig werden. Aber wenn man „Bach“ sagt ist ja auch klar, wer gemeint ist und dennoch suggeriert das nicht, das J.Chr. oder C.P.E. keine tollen Kompositionen hinterlassen haben (das haben sie, wie ich inzwischen weiss). In diesem Sinne bitte mein „Coltrane“ nicht beleidigend interpretieren, es ist nicht so gemeint. Also: „Coltrane“ ist John, wenn ich Alice meine, schreibe ich „Alice Coltrane“, okay?

Januar 1968 – „Lord, Help Me to Be“, „The Sun“, „Ohnedaruth“ (Pharoah Sanders, Jimmy Garrison, Ben Riley; „A Monastic Trio“ sowie Bonustracks der CD-Ausgabe von 1998)

„Lord“ beginnt mit Sanders phantastischem Sound – und lässt, pardon, die CD von 1998 stärker öffnen, als das eigentliche Album (das dann wie erwähnt mit „Ohnedaruth“, dem dritten genannten Quartett-Stück öffnet und vom Quartett zum Klaviertrio und schliesslich zum Harfentrio geht – diese Reihenfolge bewahrt die CD, indem die beiden weiteren Quartettstücke vorangestellt werden und das Solostück von 1967 am Ende nachgeschoben wird). Dieser erste Track hat es aber wirklich in sich! Garrisons Intro lässt natürlich sofort an Coltrane denken (aber eher Coltrane 1963-65, finde ich), der tighte (und ich finde verdammt hippe!) Beat von Riley ist dann allerdings ganz anders als der ausgreifende, lockere von Ali – mir gefällt Riley hier sehr gut, ich finde ihn eine tolle Wahl! Ich muss dieses Stück gleich drei-, viermal am Stück hören, der Groove packt mich sehr, die etwas düstere aber doch auch erhabene Stimmung trifft mich. Sanders ist hier allerdings vor allem Sound (und wirlich schön eingefangen ist er nicht, was auch daran liegen mag, dass die Aufnahmen im Coltrane-Heim in Dix Hills in Eigenregie entstanden sind), ein wirklich kohärentes Solo liefert er nicht ab, eher Fetzen, Fragmente, die mit dem Groove sehr schön verschmelzen. Alice Coltrane ist dann für das Solo zuständig und es gelingt ihr ziemlich gut, die perlenden Läufe der Linken Hand (die durchaus an Tyner gemahnen, finde ich, nicht immer, aber immer wieder), die eher trägen Akkorde und Verschmierungen der rechten, die kleinen Reibungen und Dissonanzen, die sich einschleichen, während das ganze aber – trotz Changes – immer satt groovt … dann die Rückkehr zum Bass-Ostinato, Sanders Triller, Coltranes Triller, die rollenden tiefen Akkorde – sehr, sehr schön!

Das zweite Stück „The Sun“ gefällt mir viel weniger gut. Das Thema hat zwar einen catchy Hook, aber in all den Arpeggi und dem Gebimmel geht das unter. Düster klingt das für mich nicht sehr, grad im Vergleich mit „Lord“ nicht. Es wird mit der Zeit kraftvoll, als Riley dann auch langsam sein Kit etwas zu nutzen beginnt, aber auch da, nach etwa zweieinhalb Minuten, als das catchy Motiv wiederkehrt, wird ihm sogleich mit einem Übermass an Arpeggi der Garaus gemacht. Die Flöte kann ich übrigens gar nicht hören hier, vielleicht müsste man dazu zu den Kopfhörern greifen, aber das mag ich jetzt nicht tun.

Der Opener des Albums ist dann recht ähnlich mit den rollenden Klavierfiguren – aber der Groove geht hier tiefer, und der Moment, in dem die Bassklarinette quasi aus der linken Hand des Klaviers auftaucht ist klasse – damit endet dann aber der Groove, während Garrison allerdings weiterhin für die Erdung der Musik sorgt und bald schon mit einem schnellen Riff einen neuen Groove setzt, den Coltrane (es geht ja doch!) und Riley allerdings ignorieren, Coltrane spielt arhythmische Fills, Riley legt einen Schepperteppich, während Sanders ein halbes Solo spielt – halb, weil es irgendwie wie in „Lord“ auch schon, nicht gelingt, sich vom Ganzen zu lösen und ein kohärentes Statement abzugeben – aber mich dünkt hier stärker als in „Lord“, dass er das gerne gewollt hätte. Coltranes Solo folgt, und wird von Garrison aufs schönste gestützt, während Riley weiterscheppert … das ist introspektiv und irgendwie auch wieder düster … es geht aber nirgendwo hin. Ob das überhaupt die Absicht war, ist jedoch eine sehr berechtigte Frage. Für mich bleibt die Musik irgendwie stehen – eigenartig. Garrison ist für den Boden zuständig, Riley nur im ersten Stück den Groove, Coltrane scheint etwas unentschieden zwischen catchy Riffs und Melodien, zwischen wuchtigen akkordischen Grooves und ihren Arpeggi zu mäandrieren. Im Ansatz sehr spannend, aber in der Umsetzung hört sich das für mich etwas richtungslos an (und das ist eine Beobachtung, die ich auch bei Sanders mache, Joe Henderson war dann eine wirklich gute Idee, da er solche Probleme nie hatte).

Juni 1968 – „A Monastic Trio“

Am 6. Juni 1968 wurde in Dix Hills der grösste Teil des Albums „A Monastic Trio“ eingespielt, zwei Klaviertrios und drei Harfentrios. Coltrane seht jetzt noch mehr im Zentrum als zuvor schon mit Sanders, Ali bringt mit seinem in alle Richtungen offenen Spiel neue Impulse, aber auch weitere Verzettelungen (und, so höre ich es wenigstens, davon hatte Coltrane allein schon mehr als genug, daher mag ich Riley – den ich irgendwie in der Linie von Roy Haynes höre – in „Lord“ so gerne).

Ich mag bei diesen Stücken nicht weiter ins Detail gehen, mich packt die Musik nicht so richtig, manches wirkt ungelenk, anderes wie pastiche, eher zufällig zusammengesetzt („Gospel Trane“, die Rückkehr des Klaviers nach dem Schlagzeugsolo … und dann, als nach den ersten paar Takten im Trio das Riff des Themas wiederkehrt ist schon der nächste Bruch da) – nicht organisch, irgendwie. Jones‘ These, dass der Teller leer ist, finde ich natürlich als Teil der Liner Notes zur LP extrem unpassend – aber so weit daneben liegt er nach meinem Empfinden nicht. Alice Coltrane war wohl die richtige Wahl nach Tyners Abgang im John Coltrane Quartet, aber auf sich alleine gestellt, ist sie nicht richtig geerdet, fehlt ihr irgendwie die Mitte. Das mag zwar vor allem Jimmy Garrison streckenweise sehr geschickt zu überspielen, aber es fällt für mich insofern auf, als dass das Klavierspiel dauernd zwischen tollen – und völlig geerdet klingenden – und richtungslosen, oft mit den viel-genannten Arpeggi angereicherten, leichten, schnellen Passagen changiert. Und ironischerweise höre ich in den „guten“ Momenten oft etwas heraus, was Tyner in seiner eigenen Musik wenige Jahre später zu einer Art Post-Coltrane-Mainstream verknüpft hat, diese satten Grooves, das stark akkordische Spiel, die Mischung aus Erde und Höhenflügen – die bei ihm aber meistens aufgeht und ein stimmiges Ganzes ergibt, das ich hier einfach nicht finde. Aber es gibt schöne Momente und gute Ansätze.

Das Fazit zu den drei Harfen-Stücken ist noch viel durchwachsener – der rasche Fade-Out im ersten (bei dem ich die Harfe quasi als Klangwolkenbegleitung einer tollen Rhythmusgruppe höre – eine insgesamt eher ereignisarme Sache) Stück suggeriert beinah schon, man habe kein Ende finden können, keinen Ausweg aus dem Geplätscher. Aber der Klang ist natürlich faszinierend, dass in diesem Sinne auch hier gute Ansätze vorhanden sind, mag ich nicht in Abrede stellen, ganz und gar nicht!

Das Fazit bis dahin: unausgegorene Musik, die sich um eine noch nicht mit Sicherheit festgestellte Mitte dreht, die aber manche wundervollen Momente enthält und – möglicherweise, das konnte zu diesem Zeitpunkt wohl noch niemand mit Gewissheit sagen – einige Versprechen. Barakas folgender Aussage aus seinem Abschnitt zur Klavierhälfte finde ich da treffend: „… an indication, I think, of the kind of towering strenght power Mrs. Coltrane’s music can move into if what she has can develop healthily until it is once again proided with the incarnate rhythm body it seeks as its own completion.“ – bloss das „once again“ ist wohl wieder auf den grossen Abwesenden gemünzt und völlig überflüssig. Abgesehen davon war ja Coltranes Abwesenheit nicht nur für Alice ein Problem sondern für weite Teile der Jazz-Szene, vom modernen Mainstream bis zur äussersten Avantgarde und zum – gerade aufkeimenden – Jazz-Rock, und darüberhinaus wohl auch für diverse Rockmusiker. Alicens Musik als Fortsetzung jener ihres verstorbenen Über-Gatten zu betrachten ist ein grundsätzlicher Denkfehler, das ist doch sofort klar, wenn man ein Ohr voll nimmt von diesen ersten eigenen Sessions.

Übrigens, nebenbei: Terry Pollard hat 1961 auf einem Album von Dorothy Ashby mitgewirkt. Freshsound hat eine verlockende 3CD-Box im Angebot, die aber wieder einige eklatante Schönheitsfehler hat (sie müsste vier CDs umfassen und das tolle Atlantic-Album auch enthalten, und sie müsste natürlich – ich sage das, ohne sie je gehört zu haben – viel besser klingen). Bei Amazon kann man einige Scans mit den Infos einsehen:
http://www.amazon.de/Harpist-Minor-Groove-Winds-Dorothy/dp/B0081SGL9M/

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