Re: bft#14 – gypsy tail wind

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gypsy-tail-wind
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BARNEY WILEN
19. OH JOHNNY #1 (Trad., arr. Barney Wilen) 3:55

Barney Wilen (ts), Alain Jean-Marie (p), Riccardo del Fra (b), Sangoma Everett (d), Henri Guédon (perc)
Gimmick Studio, Yerres, 21.-24. November 1988
von: Wild Dogs of the Ruwenzori (Ida 020, 1989)

Barney Wilen, das Chamäleon … Sein Ton hat oft etwas Glattes, klar … aber sein Spiel, wenn er gut drauf war schon in ganz frühen Jahren, war von einer kaum fassbaren Souveränität. Der Junge stahl sich nachts davon, um Jazz zu spielen, statt sich für die Schule auszuschlafen und spielte als Neunzehnjähriger auf einer Platte mit John Lewis (und Sacha Distel, damals ein toller Jazzgitarrist … aber auch Hank Mobley gehört zu denen, die später „The Good Life“ gespielt haben), sein Debut auf Platte gab er bereits als Siebzehnjähriger mit Roy Haynes, auf seinem ersten Album als Leader (er war noch nicht 19) spielte er ein paar Stücke von Monk und hatte Al Levitt an Bord. Die Geschichte mit Miles kennt man, dann folgte die Band mit Kenny Dorham, Duke Jordan und Daniel Humair (Barney – At Club Saint-Germain, RCA), Aufnahmen und Auftritte mit Bud Powell und Art Blakey, aber auch mit Europäern wie Martial Solal, Franco Cerri (International Jazz Meeting), George Gruntz (Mental Cruelty) oder Gil Cuppini (What’s New). Dann der Absturz, die Drogen, der Rückzug in die Provinz, Experimente mit Free Jazz (der Gral 1: François Tusques‘ „Le Nouveau Jazz“), de Gral 2 („Zodiac“), Aufnahmen mit Eje Thelin (Dragon), der irre Trip durch Afrika (Moshi, Moshi Too), die Rückkehr, Psychedelia (Dear Prof. Leary), Rock (Dee Dee Barry and The Movements: „Soul Hour“), Autorennen als Background für Saxophon-Improvisationen (Tragic Destiny of Lorenzo Bandini), Weltmusik (Jazz Meets India), der endgültige Rückzug … dann in den Achtzigern das Comeback mit Loustal/Paringaux.

Marie Möör, Disco-Pop, Akte … Falling in Love Again, nicht nur mit dem Leben sondern auch mit der Musik. Mit „La Note Bleue“, dem Album zum Comic-Band, beginnt die zweite und längere wirklich produktive Phase (nach den späten Fünfzigern), Barney veröffentlicht ein schönes Album am anderen, „French Ballads“, „Movie Themes from France“ mit Mal Waldron, „Sanctuary“ mit Philip Catherine, „Dream Time“ mit Alain Jean-Marie, „Le Grand Cirque“, „Talisman“, „Inside Nitty=Gritty“, „New York Romance“ mit Kenny Barron, „The Osaka Concert“ … doch im Mai 1996 stirbt Barney und damit versiegt eine einzigartige Stimme – oder eher ein ganzes Bündel an Stimmen?

„Wild Dogs“ ist von den späten Alben eins der rareren, ich habe selbst bis heute nur eine Kopie, die mir ein Freund vor vielen Jahren zog. Die meisten Alben sind akustisch, mit klassischer p-b-d Rhythmusgruppe, manchmal stösst Philip Catherines Gitarre hinzu (mit Jimmy Gourley gab’s auch noch ein schönes Spätwerk), aber „Wild Dogs“ ist anders, bunter, Percussion und Synthesizer kommen hinzu. Ein sehr tolles, vielseitiges Album – bei dem ich mich zwischen zwei Stücken kaum entscheiden konnte. Ich wählte dann dieses, einen kleinen Calyspo, den ich unheimlich charmant finde.

Pianist Alain Jean-Marie (*1945) stammt aus Guadeloupe, wo er bis 1967 lebte. Einer der anderen karribischen Musiker, mit denen er stets gerne spielte, ist Serge „Bib“ Monville (siehe #1) und da passt dann auch die kleine Beguine (der ja immerhin Cole Porter schon 1935 einen wundervollen Song widmete), die redbeans neulich mal ausgegraben hat, bestens in Bild:

Alain Jean-MarieWhere there’s biguine, jazz isn’t far away. When I was young, I discovered jazz at the same time as the biguine; Parker, Dizzy and Bud Powell along with the best musicians in the Antilles … Bop records were the air I breathed. There was a nucleus of us in Pointe-à-Pitre … thwat was all we listened to. We used to whistle the latest tunes to each other like some kind of code.

Jean-Marie kam 1967 im Rahmen einer Terre des Hommes Veranstaltung, in der die Antillen vorgestellt wurden, nach Kanada. Marius Cultier, ein anderer Pianist aus Guadeloupe (http://www.youtube.com/watch?v=XKgxx14MVk8) machte ihn in Montréal mit der Musik von Bill Evans bekannt. Da blieb Jean-Marie bis 1970. Bei einem Besuch zuhause entstand 1968 sein erstes Album, „Piano Biguines“.

1973 kam Jean-Marie nach Paris, besuchte seine Homeboys Al Lirvat und Robert Mavounzy, die im Cigale spielten, und wurde gleich in ihre Band engagiert: „That was a marvellous school. We played Sidney Bechet as often as Ornette Coleman. The band functioned like a genuine ‚live‘ juke-box; we had to know how to play all the jazz hits of the day.“ Bis 1975 ging das so, dann schloss das Cigale.

In den kommenden Jahren spielte Jean-Marie mit einer Menge grosser Jazzmusiker: Charlie Rouse, Archie Shepp, Art Farmer, James Moody, Lee Konitz, Johnny Griffin, Sonny Stitt, Max Roach und Chet Baker sind nur ein paar wenige, mit denn er spielte. Er wurde zu einem vorzüglichen Begleiter, war auch seinem ruhigen Charakter, seiner Zurückhaltung entspricht. Irgenwann traf er dann auch auf Barney Wilen und war bei dessen erstem Comeback-Album „La Note Bleue“ mit dabei. Es folgten vier weitere Begegnungen.

Als Leader hörte ich ihn zuerst auf sienem Solo-Album für die Box „Jazz ’n (e)motion“, vor ein paar Jahren erschienen in der „hors série“ Unterreihe von „Jazz in Paris“ zwei seiner wenigen Alben, „Afterblue“ (solo, 1988) und „Lazy Afternoon“ (Trio mit Gilles Naturel und John Betsch, 1999).

HAL SINGER & JEF GILSON
20. THE HIGH LIFE (Hal Singer) 3:59

Hal Singer (ts), Jef Gilson (p), Bernard Lubat (vib), Jacky Samson (b), Frank Raholison (d), Del Rabenja (perc), Gerard Rakotoarivony (perc)
Paris, ca. 1975
von: The Soul of Africa (Chant du Monde LDX 74556/ CD: Kindred Spirits, 2008)

Nach dem schönen der schmutzige Calypso … Hal Singer mit Jef Gilson und ein paar von dessen madegassischen Musikerfreunden, sowie Bernard Lubat und Jacky Samson, zwei Pfeilern des avancierten französischen Jazz seit den Sechzigern. Der Sound der Platte ist kaputt, aber ich mag diesen aggressiv nach vorn gemischten Bass und liebe Hal Singers Ton. Dass er hier ein wenig nach Südafrika klingt, ist vermutlich kein so grosser Zufall, denn Singer war in Südafrika und wirkte auf einem Stück einer LP von Kippie Moeketsi mit (wofür er gleich co-billing bekam).

Jef Gilson musste ja ein paar Hiebe einstecken, aber soweit ich seine Musik bisher kenne (fast nur Verstreutes, Youtube, Blogs – ich habe keine Ahnung, war seine Geschichte ist, aber sie ist bestimmt ziemlich irr), halte ich ihn für einen interessanten Musiker, der manches Hörenswertes gemacht hat.

Jef Gilson et „Malagasy“ – Avaradoha (von: „Zao“, rec. 1969, Centre Culturel Albert Camus, Antananarivo; Line-Up gemäss einem Kommentar zum obigen Video: Georges Rahoerson, ss; Allain Razafinohatra, as; Serge Rahoerson, ts; Dede Rabeson, ts; Joel Rakotomamonjy, ts; Roland De Commarmond, bari; Arnaud Razafy, bcl; Jef Gilson, p, perc; Jean Charles Capon, b; Samy Ramiara, b; Sylvain (Silo), p; Allain Rahoerson, d)

KELAN PHILIP COHRAN & THE HYPNOTIC BRASS ENSEMBLE
21. CUERNAVACA (Philip Cohran) 6:38

The Hypnotic Brass Ensemble (Line-Up nicht angegeben)
Chicago, Juni 2011
von: Kelan Philip Cohran & The Hypnotic Brass Ensemble (Honest Jons HJRCD65)

Phil Cohran, eine der grauen Eminenzen aus Chicago, Sun Ra bis Äthiopien: 1927 Oxford, Mississippi; St. Louis, Missouri, Clark Terry/Oliver Nelson; Kansas City 1950, Jay McShann, proto Rock’n’Roll mit Big Mama Thornton; Rajas of Swing, wearing red jackets, grey slacks, blue suede shoes and turbans; Chi-Town, Fünfzigerjahre, John Gilmore in der Band, der Gig: Sarah Vaughans wöchentliche „Geburtstags“-Parties („No way, Sarah didn’t sing, she was too busy partying“); 1959 mit Gilmore zu Sun Ra, 1960 „Angels and Demons at Play“, Cohran an der Zither – „With Sunny, I found my own voice“; 1961 verlässt er Ra, als dieser gen Osten zieht, gründet das Affro-Arts Theater, nimmt mit der der Artistic Heritage Company ein paar grossartige Dinge auf – Maurcie White, späterer Mitbegründer von Earth Wind & Fire spielt auch in der Band; in Cohrans Stube findet das erste Treffen der AACM statt. Cohran tritt in Gefängnissen und Schulen auf, lehrt, studiert selbst Musiktheorie und -geschichte, entdeckt eine Untersuchung Gioseffo Zarlinos aus Venedig, 1558, vertieft sich in Astronomie, gründet eine grosse Familie (acht seiner Kinder formieren das Hypnotic Brass Ensemble, auf dem Photo im CD-Cover sind fast doppelt soviele um ihn herum zu zählen, wer die acht sind, wird in der CD nicht angegeben, aber auf der Website kann man sie sehen: http://www.hypnoticbrassensemble.com/the-band).

Ich glaube, ich habe zu diesem Stück in den letzten Tagen schon alles gesagt, was ich sagen kann. Das ist einmal mehr eine Art globale Dorfmusik, die mich packt und fasziniert.

Kelan Philip CohranCuernevaca [sic] is a town in the mountains south of Mexico City. I was tehre in 1950 when I was on the road with Jay McShann’s band. It’s a place close to paradise, a city filled with the fragrance of flowers. I always wanted to go back …

THE ART ENSEMBLE
22. TATAS-MATOES (Lester Bowie) 2:17

Lester Bowie (t), Roscoe Mitchell (as), Malachi Favors (elb), Robert Crowder (d)
Ter-Mar (Chess) Studios, Chicago, 11. März 1968
von: The Art Ensemble 1967/68 (Nessa ncd-2500, 1993, 5CD-Box / geplant als B-Seite zur gekürzten Single-Fassung von „Carefree“, nie veröffentlicht / auch auf ncd-2, Reissue von The Roscoe Mitchell Art Ensemble – Congliptious, 2009)

Eine Kleinigkeit vom Art Ensemble of Chicago – eine Hommage an James Brown, die allerdings überraschenderweise nicht für alle Ohren verständlich ist, wie es scheint. Welche Single gerade draussen war, als das Art Ensemble in Studio ging, weiss ich nicht genau, aber die letzte #1 war „Cold Sweat“. „Get It Together“ war die nächste Single, im September 1967 aufgenommen (#11), hier eine Live-Version, die einen Eindruck geben sollte (inklusive Wes Montgomery impersonation von Jimmy Nolen):

Chuck Nessa schrieb im Booklet der oben abgebildeten Box zur Session (es gibt „Congliptious“ inzwischen auch einzeln wieder auf CD, inkl. der drei Takes von „Carfree“ und „Tatas-Matoes“):

Chuck NessaBefore tackling Congliptious, we recorded two pieces for a projected 45 rpm release. Carefree, a Mitchell composition written in the early sixties, was first. After two good takes, it was decided to shorten the head out to get the record under three minutes (for AM airplay). The flip side was Tatas-Matoes, Lester’s tribute to James Brown’s band of that day. That’s Malachi who yells „Here comes the man“ midway in the performance. Congliptious and Old were recorded in one continuous take.
During this session, Ramsey Lewis spotted Fontella Bass in the control room, entered, listened a while, and pronounced us all crazy. He was laughing as he left. Willie Dixon just smiled.

BETTY MABRY
23. POLITICIAN MAN (Jack Bruce/Pete Brown) 5:40

Betty Mabry (voc), John McLaughlin & unknown (g), Larry Young (org), Harvey Brooks (b), Mitch Mitchell (d)
Columbia Studio B, New York, 20. Mai 1969
von: Down Home Girl (CBS, unveröffentlicht)

Funky?

Man hole sich Betty Davis – ’nuff said!

DR. JOHN
24. FAMILIAR REALITY (REPRISE) (Mac Rebennack) 1:53

Dr. John (voc, p, org, g, vib, perc), Eric Clapton, Tommy Ferrone (g), Steve York, Jesse Boyce, Carl Radle (b), Wayne Jackson, Jim Price (t), Vic Brox (t, org), Jack Hale (tb), Ray Draper (tuba, perc, backing voc), Chris Mercer, Jerry Jumonville (sax), Graham Bond (as), Ed Logan, Andrew Love, Bobby Keys (ts), James Mitchell (bari), Kenneth Terroade (fl), Walter Davis Jr. (p), Ronnie Barron (keys), John Boudreaux, Fred Staehle (d), Jim Gordon (perc, cga), Calvin „Fuzzy“ Samuels, Freeman Brown (perc), Mick Jagger, Doris Troy, Shirley Goodman, Tami Lynn, P. P. Arnold, Bobby Whitlock (backing voc)
Trident Studios, London; Dimension Recorders, Hollywood, CA; Criteria Studios, Miami, FL – ca. 1971
von: The Sun Moon & Herbs (Atlantic K 40250 [UK] / Atco SD 33-362 [US])

Mit Dr. John machte ich am Gymnasium, in den Neunzigern, Bekanntschaft … der gleiche Freund, der mir auch Gary Moore und irgendwelche Sekten-Heinis aufs Auge drücken wollte, dank dessen Vaters CD-Sammlung ich aber auch zum ersten Mal Teddy Wilson hörte, lieh mir eine der etwas überproduzierten Scheiben, die damals gerade neu war. 1997 oder 1998 spielte der gute Doktor mit Bobby Broom an der Gitarre am Jazzfestival Bern und ich sass gebannt vor dem Radio – ein grossartiges Konzert! Bis ich mich etwas systematischer hinter seine Alben machte, sollte es aber Jahre dauern. Erst als ich meine kurze Rock-Entdeckungsreise (sie dauert ca. einen Sommer lang, kurz bevor ich hier im Forum auftauchte, sie dauert noch an, aber mit grossen Unterbrüchen und natürlich mit grossen Beschränkungen, vieles interessiert mich schlicht nicht) antrat, fiel mir „Gumbo“ in die Hände – und ich war begeistert von diesem mitreissenden Mix aus Jazz, Soul und Rock, dazu dem unwiderstehlichen New Orleans-Beat und dem rollenden Piano von Dr. John. Mit der Zeit lief ihr aber „The Sun Moon & Herbs“ den Rang ab als meine liebste von Dr. John. Ich habe wenige Alben so oft gehört in den letzten drei, vier Jahren, wie dieses. Die Sessions fanden über Monate und Kontinente und mit Dutzenden Leuten statt, Mick Jagger und die Band von (gähn) Clapton (is not God) tauchen im Line-Up auf, ebenso Ray Draper, Kenneth Terroade und Graham Bond (der ein verdammt guter Altsaxophonist war, bevor er zum Blues-Shouter wurde … „Roarin'“, gemeinsam mit Don Rendell, sei wärmstens empfohlen!). Wer von all denen hier genau zu hören ist, weiss ich nicht, ich habe die Angaben aus dem Netz zusammengesucht. Das Album ist Pastiche, eine Collage, eine Studio-Produktion, aber ich finde es sehr aus einem Guss, wenngleich ein wenig chaotisch und ziemlich unperfekt – aber das macht den Reiz umso grösser.
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hier die vollständigen Angaben zu den Betty Mabry-Sessions, wie ich sie irgendwann mal irgedwoher hatte (Losin?), jedenfalls kenne ich leider nur „Politician Man“:

BETTY MABRY: Down Home Girl (CBS unissued)

recorded May 14 & 20, 1969

producers: Miles Davis/Teo Macero
engineer: Stan Tonkel

Columbia Studio B

Betty Mabry – vocals
John McLaughlin – guitar
unknown – guitar
Larry Young – organ (5/20)
Herbie Hancock – organ (5/14)
Harvey Brooks – bass
Mitch Mitchell – drums

MAY 14, 1969
Born on the Bayou (4:20)
Down Home Girl (5:26)

MAY 20, 1969
Politician Man (5:28)
Ready Willing and Able (3:32)
Hangin‘ Out (5:00)

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