Re: Klassik-Glossen

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Gidon Kremer hat genug vom celebrity rat race:

Doch Gidon Kremer hat genug. In einem Brief an den künstlerischen Leiter des Verbier-Festivals, Martin T: Engstroem, begründete Kremer schon im vorletzten Jahr seine kurzfristige Absage. Er sei nicht etwa krank, wie die Festivalleitung der Öffentlichkeit gegenüber behauptet habe. Sondern er habe genug davon, sich am «Rattenrennen der Berühmtheiten» («celebrity ratrace») zu beteiligen.

Er frage sich, so Kremer in dem im Original englischen Text weiter, was er persönlich eigentlich verloren habe an diesem Gipfeltreffen von Namen, von älteren wie jüngeren Berühmtheiten. Kremer spricht von «parties for the sake of parties» und bekennt, er fühle sich in Verbier, wo er schon oft aufgetreten ist, mittlerweile als «outsider».

[…]

Ähnlich wie Gidon Kremer sind auch andere ältere Musikstars, so etwa die Pianistin Martha Argerich (72), wählerisch geworden. Sie unterhält inzwischen ihr eigenes Festival in Lugano, wo sie fleissig spielt, macht sich ansonsten aber rar. Und es gibt sogar viel jüngere Starmusiker, die dem Hochkultur-Zirkus Adieu sagen. Unlängst war im Zürcher «Tages-Anzeiger» zu lesen, dass sich die französische Sopranistin Natalie Dessay (48) von der Opernbühne zurückzieht – ob nur für zwei Jahre oder für immer, ist noch unklar.

Sie, die eine umjubelte Königin der Nacht war und eine gefeierte Cleopatra in Händels «Giulio Cesare», eine grossartige Violetta Valéry in Verdis «Traviata» und eine stimmgewaltige Lucia di Lammermoor –, sie hat genug von den Rollen, auf die man sie zunehmend reduziert. Schallplatten hat sie zwar weiter aufgenommen (zuletzt eine Auswahl von Debussy-Liedern), aber damit ist heute kein Staat mehr zu machen.

[…]

Gidon Kremers Schreiben enthält über die persönliche Absage an den langjährigen Verbier-Intendanten hinaus Aussagen von allgemeiner Gültigkeit. Sie werfen ein Licht auf den heutigen Musikbetrieb, in dem sich Klassikfestivals nicht mehr wesentlich unterscheiden von Rock- und Pop-Events. Überall spielen die gleichen Mechanismen, herrschen die gleichen Gesetze, ist derselbe Rummel um Geld und Prominenz zu beobachten. «Ich will einfach nicht eine Luft atmen, die von Sensationsgier und verbogenen Werten angefüllt ist», schreibt Kremer weiter.

Kremer ist ehrlich genug einzuräumen, dass er selbst lange mitmachte in einer Musikwelt, «in welcher Stars mehr zählen als Kreativität, Ratings mehr als Talent, Zahlen mehr als Klänge». Nach ungezählten Konzerten, Tourneen und Plattenaufnahmen wolle er «nur noch Dinge tun, von denen ich glaube, dass sie irgendwie notwendig sind».

Auch Kremer war einmal jung und genoss den Jugend-Bonus, von dem heute – um in der Geigerszene zu bleiben – jüngere Talente wie die Norwegerin Vilde Frang (27), die Georgierin Lisa Batiashvili (33) oder der Deutsche David Garrett (31) profitieren. Von Garrett erschien kürzlich auf dem vornehmen Label der Deutschen Grammophon Gesellschaft eine CD mit Aufnahmen des 14-Jährigen. Zweifellos fragwürdig angesichts der Tatsache, dass es von allen Stücken bessere Einspielungen gibt.

[…]

Nach der Veröffentlichung des Briefs von Gidon Kremer gab es im Netz zahlreiche Reaktionen, die meisten von ihnen zustimmend. So bestätigte der Dirigent Fabio Luisi kurz und knapp Kremers Diagnose: «Yes, young and pretty and fast fingers (or a nice voice, or a great mimic) = successful». Kleine Pointe am Rande: Fabio Luisi (53) ist heute Chefdirigent am Opernhaus Zürich, zugleich aber Erster Gastdirigent an der New Yorker Metropolitan Opera. Dort gilt er intern als «logischer Nachfolger» des erkrankten James Levine. Luisis Familie lebt in New York, er nennt Zürich seinen Hauptwohnort. Dass Luisi als Jet-Set-Dirigent modernen Zuschnitts Kremers kulturkonservativer Klage zustimmt, wirkt paradox.

Inzwischen hat Kremer seine Kritik am Musikbetrieb vertieft, radikalisiert und in Buchform gebracht. Seine «Briefe an eine junge Pianistin» – man darf dahinter die Georgierin Khatia Buniatishvili vermuten – sparen nicht mit Seitenhieben gegen erfolgreiche Jungstars wie den Chinesen Lang Lang, die russische Sopranistin Anna Netrebko und den mexikanischen Tenor Rolando Villazón. Diese seien Symbolgestalten für «eine Krankheit, die uns alle angreift und unmerklich vergiftet».

Die verbreitete Sucht nach Anerkennung (und Geld) hat laut Kremer den Musikmarkt zerstört. Zu den positiven Ausnahmen, die auch bei verlockenden Angeboten mal Nein sagen, zählt Kremer kaum zufällig seinen Nachfolger in Lockenhaus, Nicolas Altstaedt.

Der Artikel erschien in der Basler Zeitung, ich las ihn online hier:
http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/pop-und-jazz/Wenn-der-Geiger-die-Saengerin-als-Krankheit-betrachtet/story/23127200

Dessays Abgang hatte ich irgendwo schon erwähnt, dazu berichtete der Tagesanzeiger selbst, den Artikel gibt es aber auch bloss für Bezahlkunden daher mag ich ihn nicht hier reinstellen.

Dass Buniatishvili auf der „richtigen“ Seite verortet wird, freut mich, denn ich halte sie für ziemlich talentiert, wenigstens aufgrund des Wenigen, das ich von ihr bisher kenne. Die anderen – auch die oben genannent Jungstars – hingegen bedeuten mir bisher allesamt gar nichts.

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