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Also diese sehr euphorische Kritik von Harald Schmidt (Lieblingsalbum: „Foxtrot“) auf den BBS könnte eigentlich auch vom Grünschnabel sein.:-)
„Das Beispiel des Steven Wilson dient sowohl gut dazu, zu sehen wie die kleine Prog-Szene ihre kommerziell erfolgreichen Figuren betrachtet als auch dazu, den ursprünglichen und aktuellen Progressive Rock miteinander zu vergleichen.
Dieser Vergleich ist ebenso einfach wie die Folgen dessen klar abzusehen sind: Die Prog-Pioniere der späten 60er und frühen 70er wussten kaum einmal genau, worauf das alles hinausläuft, was sie tun. Sie folgten dem Moment, ihrer Eingebung und ließen diese mit den damals teils neuen technischen Optionen verschmelzen. Dies gilt m.E. nicht nur für ihre ersten Gehversuche und Alben, sondern auch für die Gesamtentwicklung eines Musikgenres. Die Protagonisten der heutigen Prog-Szene dagegen wissen meist sehr genau, wohin sie wollen, wie sie die technischen Möglichkeiten nutzen können und wie ihre Platten am Ende aussehen sollen: Sie tun dies mit dem historischen Hintergrund, mit der Erfahrung von hunderten gehörter Platten, mit der Erfahrung zu wissen, was davon ihnen selbst am besten gefallen hat und aus welchem Stoff die Klassiker gemacht sind. Im Gegensatz zu ihren Urvätern entfernen sie sich daher im Lauf der Jahre auch nicht von ihren musikalischen Wurzeln, was zugegebenermaßen die Gefahr der Wiederholung birgt. Dafür erleidet man nicht den oft bei Genesis, Yes, Camel oder Kansas (um nur wenige Beispiele zu nennen) beklagten musikalischen Verfall. Vielleicht ein Dilemma oder ist es nur typisch für den Menschen, dass eben nicht immer beides gleichzeitig funktioniert: Konservierung des Erreichten und gleichzeitig permanente Weiterentwicklung.
Betrachtet man nun außerdem, wie man in der Szene mit den „neuen“ Helden wie Steven Wilson, Neal Morse oder Roine Stolt umgeht, entdeckt man zwei gegenläufige Tendenzen ohne nennenswerte Zwischenebene: Entweder ungebremstes Niederknien oder permanentes Gemäkel. Ersteres ist Schwärmerei und dagegen ist nicht viel zu sagen: Es ist gut, wenn Menschen etwas schön finden und sich für etwas begeistern, das ist etwas Positives in unserer Welt. Zweiteres gefällt dagegen viel weniger: Warum werden genau die Musiker aufs Korn genommen, die der Szene so viel gegeben haben? Nicht nur musikalisch, sondern ganz oft auch einmalige Erlebnisse oder ganz besonders etwas, das dem Prog seit den späten 70ern oft gefehlt hat: Außenwirkung! Und zwar eine positive: Man nimmt den Progressive Rock seit Dream Theater, Spock’s Beard oder Porcupine Tree in den 90ern wieder wahr – und man nimmt ihn auch als musikalischen Zweig wieder ernst. Diese Personen haben genau das bewirkt, was man sich über viele Jahre nur wünschen konnte: Es gibt wieder Radiosendungen, Presseberichte, große Tourneen und CD-Produktionen auf internationalem Niveau.
Steven Wilson vereint nun inzwischen in seiner Person all das – alle Diskussionen, alle Divergenzen. Und genau in der Phase, in der er nun sich anschickt, den Zenit zu erklimmen und Anerkennung und massiven Erfolg auch außerhalb der engen Progressiv-Szene zu ernten, wird der Prophet im eigenen Lande nun schon massiv unter Feuer genommen. Muss man verstehen, warum das so ist?
Der Blick auf das Wesentliche, nämlich die Stücke auf The Raven, zeigt, dass wir ein Album haben, das durch perfekt inszenierte, klassische Prog-Kompositionen und –Arrangements besticht. Perfekt, weil Wilson alle Register seines Lernens und Könnens und auch das der Vorväter zieht: Das Album ist exzellent aufgenommen, die Sounds brillant ausgewählt und aufeinander abgestimmt, die Vorträge der Musiker sind ebenso leidenschaftlich wie technisch perfekt und am Ende findet man auch noch jede Menge wunderbarer Melodien. Wenn man Kritik üben möchte, finde ich nur einen Punkt: Wilson ist ein netter Sänger, aber nicht unbedingt variabel. Er hat nicht die charismatische Prägung eines Gabriel oder Hammill, oder auch eines Jon Anderson oder Fish. Seine Stimme ist weder besonders auffällig noch außergewöhnlich geeignet sich wechselnden Stimmungen anzupassen und deren Wirkung zu verstärken. Das ist es auch, was seine Solo-Alben immernoch in die Nähe von Porcupine Tree rückt. Viel mehr kann man beim besten Willen nicht finden, was Wilson noch verändern könnte.
The Raven schüttet das Füllhorn von viereinhalb Dekaden progressiver Klänge über dem Hörer aus, spielt bewusst und liebevoll mit den Abenteuern, Experimenten und Erkenntnissen aus 45 Jahren. Es klingt jederzeit unbemüht und unangestrengt. Und allein das ist ein Genuss für jeden Freund großartiger Musik. Man muss keineswegs ein ausgewiesener Prog-Freund sein, um diesem Album eine bestechende musikalische Leistung zu attestieren, die in dieser Form und Vielseitigkeit aktuell anscheinend niemand anders als Steven Wilson zu erbringen im Stande ist.“
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Jetzt schon 62 Jahre Rock 'n' Roll