Re: 20.01.2013

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wolfgang-doebeling
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KICKS ON 45 & 33

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Napoleon Dynamite
Deinen Standpunkt dazu, was einen Musikkritiker ausmacht, teile ich ohne Einschränkungen. Interessant, was du zu Christgau schreibst, ich kenne ihn bereits nur noch als den pappy der Village Voice, der gutmütig gedrechselte Dreizeiler verfasst, consumer-friendly durch und durch. Sämtliche Schreiber, die ich schätze, zeichnen sich hingegen aus durch Schärfe und Tiefe in Stil und Gedankengängen, nicht unbedingt durch ebenmäßige und um konsensuelle Harmonie buhlende Urteile. Mit apodiktischer Haltung? Yeah! Es gibt viel zu wenig davon. Nahezu alle habe ich aber aus dem Rückblick kennengelernt, weswegen die Vorlieben sehr persönlich sind, ich ihre volle Relevanz aber nur noch mittelbar nachvollziehen kann. Einige der Kritiker sind natürlich auch nicht mehr so treffsicher wie früher: Kents heutiger Stil mag noch lediglich dann verblassen, wenn man ihn gegen seine frühen NME-Artikeln absetzt, bei Penman dagegen ist mittlerweile nur noch die Attitüde intakt. Was natürlich an der grundsätzlichen Klasse nichts ändert. Deswegen aber ohne belastbare Reihenfolge: Nick Kent, Charles Shaar Murray, Lester Bangs, Mick Farren, Ian MacDonald, Wolfgang Doebeling, Ian Penman, Paul Morley, David Toop, Byron Coley

Much obliged.

Ad Christgau – Ein Kritiker, den ich nicht mehr ernstnehmen kann, seit er mir allen Ernstes mitteilte, er habe Ende der Sixties aufgehört, Singles wahrzunehmen, denn – wait for it! – es gebe davon einfach zu viele. Mein Verdikt: D+
Ad Penman – Sehr clever, had a way with words (and puns), bot also unterhaltsame Lektüre, doch hatte ich auch zu seiner besten Zeit nie das Gefühl, er wäre mir voraus, ich könne etwas von ihm lernen. A little pretentious, too.
Ad Morley – Wirklich? In den 70ern allenfalls, ähnlich wie Tony Parsons. Danach waren beide upwardly mobile, ließen sich vor Karren spannen, ihre Schreibe wurde gesamtgesellschaftlicher, verlor an Konkretion. Morleys Part beim Fabrizieren von Frankie Goes To Fuckin‘ Hollywood macht ihn mir zudem nicht gerade sympathisch.
Ad MacDonald – Armer Kerl. Ich mochte ihn als Stimme der Vernunft beim NME, bevor er zum Beatles-Fex wurde, Religion abonnierte (Sufi oder sowas), schließlich zum Headcase mutierte und endete wie Syd Barrett. Guter, verlässlicher Schreiber trotzdem, zumindest in den Wirren von 1977 ff.
Ad Coley – Absolut! Right attitude, no nonsense, straight to the heart. War der beste Mann beim „NY Rocker“, ist aber derzeit wohl mit anderem als music writing beschäftigt. Ab und zu taucht er noch in „Wire“ auf, sonst lese ich selten etwas von ihm, leider.
Ad Toop – Nope, I don’t think so. Was ich von ihm kenne, ist gut geschrieben, aber so verdammt ausgewogen. Ich schätze durchaus sein Fachwissen, mit seinen musikalischen Vorlieben freilich weiß ich meist nicht viel anzufangen. Südsudanesische Schamanenmusik? Gimme a fuckin‘ break.

Now? Dies ist nicht die Zeit für Musikkritik, so viel ist sicher. Jeder Idiot meint, er wisse hinreichend bescheid. And Google’s just a click away, click away (zur Melodie von „Gimme Shelter“).

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