Antwort auf: jahresrückblick 2012

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gypsy-tail-wind
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Hab mich in der zweiten Jahreshälfte fast nicht mehr mit Jazz befasst, daher habe ich auch diesmal nicht vorgelegt mit dem Jahresrückblick … von dem, was dennoch bis zu mir durchgedrungen ist bisher, hat mich einiges dennoch ziemlich umgehauen.

Neue Releases

* * * * *
Henry Threadgill Zooid – Tomorrow Sunny/The Revelry, spp (Pi Recordings)
Wadada Leo Smith – Ten Freedom Summers (Cuneiform)

* * * *1/2
Sam Rivers/Dave Holland/Barry Altschul – Reunion: Live in New York (Pi Recordings)
Ken Vandermark/The Resonance Ensemble – What Country Is This? (Not Two)
Elina Duni – Matanë Malit (ECM)
Charles Gayle – Streets (Northern Spy)

Archiv-Releases

* * * * *
Charles Mingus – The Jazz Workshop Concerts 1964-65 (Mosaic Records)

* * * *1/2
The Blue Notes – Before the Wind Changes (Ogun)
Elton Dean’s Ninesense – The 100 Club Concert (Reel Recordings)

Vierer gibt’s keine, weil ich keine Jazz-Alben in der Liste habe, denen ich vier Sterne gebe dieses Jahr. Die Dreieinhalber liste ich nicht mehr … dazu:

Unten rausgefallen aus der Bestenliste ist „The Cherry Thing“ – das Album ist für mich nach wohl einem guten Dutzend Durchgängen ausgelutscht – und es ist schlecht produziert, dieser übermässig heisse Sound ist unmöglich, man kann es weder laut im Raum hören (ist für Mitbewohnerinnen und Nachbarn unzumatbar) noch auf einem MP3-Player (weil’s dort nur noch so scheppert vor lauter Bass und Treble). Den Sound-Befund hätte ich schon postwendend nach dem ersten Hören liefern können, der andere Befund überrascht mich selbst ziemlich, denn ich war doch recht begeistert nach den ersten zwei, drei Hördurchgängen – aber es sollte wohl nicht sein. In den Jahresbestenlisten (hier) belegt es bisher zweimal Rang 1 und einmal Rang 2, diverse Fori, die vom Album sehr begeistert waren, haben dort noch keine Listen gepostet – ich bin gespannt, ob ich der einzige bin, bei dem die Scheibe in der Gunst gesunken ist.

Die Mosaic-Box von Mingus kenne ich noch nicht einmal, aber ich wage die Top-Bewertung aufgrund ihrer puren Existenz. Mingus‘ Musik war in jenen Jahren auf einem ganz grossen Höhepunkt, offen in alle Richtungen und dennoch – das wird sie für mich immer sein: reinste Soulmusik. Im einzelnen mag am Ende nicht jedes Konzert fünf Sterne verdienen (Town Hall ohne die Bonustracks kriegt von mir wohl * * * *1/2, Amsterdam in der Ulysse LP-Fassung Abzug wegen des Sounds, von „My Favorite Quintet“ erwarte ich nicht allzuviel, Lonnie Hillyer und Charles McPherson sind bei all ihren Qualitäten kein Ersatz für Coles/Dolphy/Jordan).

Konzerte

gypsy tail windEndstand:

*****
Matana Roberts – Coin Coin Chapter Two: Mississippi Moonchile – Zürich, Rote Fabrik, 22.3. (Kritik)
Matana Roberts – Solo – Düdingen, Bad Bonn, 2.5. (Kritik)
Elina Duni – Zürich, Moods, 20.11. (Kritik)
Paal Nilssen-Love & Ken Vandermark – Jazz geht Baden, Baden, Stanzerei, 28.4. (Kritik)
Matthew Shipp & Sabir Mateen – Taktlos Festival, Zürich, Rote Fabrik, 12.5. (Kritik)

****1/2
Grigory Sokolov – Luxembourg, Philharmonie, 26.11.
Tony Allen – Zürich, Moods, 5.11.
Bruce Springsteen – Zürich, Letzigrund, 9.7.
Lee Konitz – Zürich, Moods, 24.10. (Kritik)
Marcus Wyatt – Blue Notes Tribute – Basel, Bird’s Eye, 29.5. (Kritik)
Irene Schweizer – Solo – Zürich, Helmhaus, 27.3.
Matana Roberts – Luzern, Mullbau, 4.12. (Kritik)
Sharon Jones & The Dap-Kings – Zürich, Kaufleuten, 22.5.

****
Tarbaby & Oliver Lake – Zürich, Moods, 14.5. (Kritik)
Tony Malaby – Paloma Recio – Taktlos Festival, Zürich, Rote Fabrik, 12.5. (Kritik)

***1/2
Bad Panda – Düdingen, Bad Bonn, 2.5.

**1/2
Donny McCaslin Group – Jazz geht Baden, Baden, Stanzerei, 28.4. (Kritik)

Unschwer, zu erkennen, dass das Konzertjahr unter dem Zeichen von Matana Roberts stand, die im März mit Kapitel 2 ihres „Coin Coin“-Zyklus und im Mai im Bad Bonn in Düdingen grossartige Konzerte ablieferte. Im Vergleich dazu klang manches in Luzern dann doch ewas routiniert, wenigstens im geplanten, wie üblich um Oscar Brown Jr.’s „Bid ‚em in“ konstuierten geplanten Set. Das machte sie aber mit drei Zugaben wett, für die sie sich ganz ohne Elektronik im Raum frei bewegte und für das aufmerksame Publikum den Blues spielte …

Ansonsten war Elina Dunis Konzert vor ein paar Wochen eine ganz grossartige Sache. Leise, lyrische Musik, die dennoch von grosser Wucht ist, auch weil sie in gewisser Weise archaisch rauh ist, von einer kargen Poesie getragen. Duni kündet im Konzert die Lieder an, fasst die Geschichten zusammen, die in ihnen erzählt werden oder liest gleich die ganzen Texte in ihrer Übersetzung vor. Notwendig wäre das nicht, aber es hilft doch, sich in diese Welt – die unserer ziemlich fern und doch nah ist – einzufinden und sich auf ihre Musik einzulassen. Ob es sich dabei um Jazzmusik handelt, weiss ich nicht, ist mir auch ziemlich egal … andererseits könnte man auch etwas provokativ sagen, dass Donny McCaslins (teilweise unbewusste, vermute ich) Abwichserei im Geiste dem widerspricht, was ich für Jazz halte (und dass Springsteen überraschender war als McCaslins Mannen, Uri Caine inklusive). Das Set war jedenfalls ein Tiefpunkt, gerade nach dem unglaublichen Duo von Ken Vandermark und Paal Nilssen-Love, auf das ich irgendwie gar nicht gefasst war – es hat mich umso mehr überrascht, als ich ja eigentlich gar kein VDMK-Kenner und Verfolger bin.

Für die Differenzierer und weil ich nicht nachträglich die stets kurz nach den Konzerten gefällten Ratings korrigieren mag: man könnte wohl vor Shipp/Mateen auf viereinhalb und vor Konitz oder nach Wyatt (ich bin da unschlüssig) auf vier senken und danach jeweils einen halben abziehen (also dreieinhalb für Tarbaby und Malaby, drei für Bad Panda etc.) – aber das muss nicht sein, die paar Konzerte, zu denen ich mich dieses Jahr einfinden mochte, waren einfach fast durchs Band weg sehr, sehr gut!

Die ganz grossen Entdeckungen blieben bei mir nicht aus, aber sie fanden im Bereich der Klassischen Musik statt, mit der ich mich seit ca. Juni zum ersten Mal überhaupt ausgiebig befasse. Name-Dropping will ich nicht machen, ich habe auch einfach gehört wie ein Irrer und weiss noch überhaupt nicht, in welche alle Richtungen das weitergehen wird. Man gucke in die Klassik-Ecke, wenn man wissen will, was ich diesbezüglich so treibe!

Ansonsten … es gibt einige Dinge, die ich noch hören will, neben der Mingus-Box etwa die Steve Lehman Trio-Scheibe, die ich mir diese Woche fast gekauft hätte, auch die neuste von Hafez Modirzadeh bei Pi. Auf Vireilles hast Du, vorgarten, mir natürlich ebenfalls Lust gemacht (klick).

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