Re: Retromania | ist Pop tot?

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tolomoquinkolom

Registriert seit: 07.08.2008

Beiträge: 8,651

FriedrichIch persönlich finde es schön, dass Pop ein Bewusstsein für die eigene Geschichte entwickelt hat und dass in vielen Fällen sehr kenntnisreich und geschickt damit umgegangen wird. Dass in anderen Fällen damit auf banale Art und Weise, zusammenhanglos oder nur wiederkäuend umgegangen wird, finde ich weniger schön. Ich fürchte aber, das ist nicht zu vermeiden. Vielleicht fordert das der Markt so.

AlbertoWenn die Musik von früher, die mir etwas bedeutet, aufs Ästhetische reduziert wird (unter Außerachtlassung der früheren popkulturellen Bedeutung), kompatibel gemacht wird mit der allgegenwärtigen Konsenskonsumkultur und dann gleichzeitig andere Musik von früher, die anderen Menschen etwas bedeutet, genauso verwurstet wird, werden Bestandteile meiner eigenen Sozialisation in geschichtsblinder und egalisierender Weise vereinnahmt.

Das hat was von einer Selbstüberhöhung der heutigen, gerne als „retro“ bezeichneten Popkultur gegenüber derjenigen aus der Zeit der jeweiligen Originale. Die Zitate früherer Musik stellen keine Verbeugung vor dieser Musik oder gar vor deren früherer gesellschaftlicher Bedeutung, sondern die Vereinnahmung dieser Musik durch die wertungsfreie Konsumwelt heutiger Prägung dar.

Es ist eigenartig, wie schnell man sich daran gewöhnt hat. Es scheint auch keine nennenswerten Einwände oder Bedenken zu geben – weder von Musikern noch von Konsumenten. Wie Reynolds schreibt, ist es bemerkenswert (oder doch eher bedenklich?) wie diese ‘neue’ Musik zum alltäglichen Bestandteil unserer Hörgewohnheiten geworden ist und wir z.B. Songs aus Bruchstücken anderer Songs (losgelöst aus ihrer Zeit, ihrem Zusammenhang und ihrer Bedeutung) gut finden und akzeptieren. Konsumismus regelt die Bedingungen unseres kulturellen Verhaltens und entscheidet damit auch über die Kultur selbst.

bullschuetzPop hat seit den 60ern nun mal mächtig viel Geschichte angelagert, und derzeit scheint diese mächtige historische Aura für viele faszinierender zu sein als das, was sich entschlossen gegen vorgeprägte Muster absetzt oder ihnen entschlossen etwas hinzufügt.

Postmoderne + Internet = Super-Hybridität.

In den 60ern gab es die Beat-Band-Explosion, dazu noch Folk-Rock, Psychedelic, Soul, Ska. In den 70ern kamen Glam, Heavy Metal, Funk, Punk, Reggae, Dub, Disco dazu. Die 80er hielten Schritt mit Hip-Hop, Synth-Pop, Gothic, House. Die 90er hatten Techno, Rave, Dancehall, Grunge, Alternative-Rock. Wie halten die 2000er da mit? Keine der aktuelleren Entwicklungen hat eine neue Musikform hervorgebracht. Der state-of-the-(ch)art-Mainstream im Pop wirkt eher wie ein Abbild einer eingefroren Zukunft. Es fehlen Bewegungen und Bewegung.

Nach dem Aufstieg mit Hilfe von Internet und Info-Tech-Boom entpuppten sich die 2000er als Plateau. Es ist schwer zu sagen, was diese Ära denn musikalisch ausmacht, welche Musik eigentlich typisch für die 2000er ist. Supermarken (iPod, You Tube, Last.fm, MySpace, Spotify, Napster usw.) haben im wesentlichen den Platz von Superbands bzw. -künstlern eingenommen. Man wird sich später einmal an Marken, aber nicht an Musiker dieser Ära erinnern. McLuhans ‘the medium is the message’ hat eine neue Gültigkeit bekommen.

[Simon Reynolds | in: Der Schock des Altbekannten]

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