Re: Retromania | ist Pop tot?

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

Beiträge: 4,891

genosse schulzOder über den seit 6-7 Jahren immer größer werdenden Occult/Retro Rock Hype. Mittlerweile spielen allein in Europa um die 40-50 Bands ziemlich gut alle möglichen Endsechziger/Frühsiebziger Hard-Space-Heavy-Psych-Doom-Rock-Proto-Metal-was weiss ich für-Sounds. Wie Boris Kaiser meinte, die Jungs und Mädels ziehen sich halt alle die gleichen Platten rein. Sabbath, Coven, Captain Beyond, Led Zep, Heep, BÖC, Pentagram, Mountain, Budgie…

Man hatte einfach genug von zerfrickelten Mathcore Quälereien, Thrash-Riffmassakern und sowieso Pro Tools Orgien. Also zurück in die Vergangenheit. Als Abgrenzung zum Bestehenden. Im Sound wie bei den Instrumenten. Ähh… Progressive Vintage, sozusagen. Oder die Antithese, wie man will.

Und mit Graveyard und vor allem der Berliner Kasperkapelle Kadavar treibt der Kult mittlerweile auch ganz seltsam bunte Blüten:

TCM 005 – Kadavar “s/t” LP plus Mp3

first press: 100 copies white, 200 copies red, 400 copies black wax – SOLD OUT
second press: 300 copies green wax – SOLD OUT
third press: 1000 copies black wax – SOLD OUT
fourth press: 1000 copies purple wax – SOLD OUT
fifth press: 1000 copies milky white wax – SOLD OUT
sixth press: 1000 copies yellow wax – SOLD OUT
seventh press: 1000 copies darkblue with black swirls

(Quelle)

Erinnert ja fast schon an den Ghost-Hype vor 2 Jahren. Aber das ist interessant. Stand ich im September auf dem Stuttgarter Flohmarkt (samstags auf dem Karlsplatz) und durchsuchte die übliche Neu reingekommen! „60/70er Pop Rock“ Kiste eines Profihändlers. Neben mir ein ca. 40-jähriges Pärchen und hat folgende Platten rausgesucht: irgendeine Grönemeyer und was von Genesis und „Revolver“ von den Beatles.

Beim Bezahlen erzählen sie, ihre Tochter hätte sich neulich einen alten Plattenspieler gekauft und wünscht sich jetzt Platten. Und auch hier: Retro als Abgrenzung. Und/oder Ergänzung, Gimmick, Accessoire.

Ich kann darin nichts negatives erkennen.

Mmmh…?

Ich vermute, Du missverstehst mich hier absichtlich, oder? Mit Electronica meine ich das weite Feld der Musik, die sich nach House und Techno immer weiter ausdifferenziert und viele Sub-Genres gebildet hat und die für mich ein Beispiel für aktuelle und nicht zuvorderst rückbezüglicher – vulgo: retro – Popmusik ist. Ich habe RETROMANIA nicht gelesen und weiß daher nicht, ob Reynolds diese Musik überhaupt wahrnimmt. Vermutlich nicht, sonst würde er aktuellem Pop nicht pauschal das Kleben an der eigenen Vergangenheit vorwerfen. Man muss dann aber auch mal fragen, warum er Electronica übersieht.

Diese extreme Zersplitterung mancher Genres, nicht zuletzt im Metal, der sich ja sogar insgesamt versucht von Pop und sogar von der Rockmusik abzugrenzen, scheint mir so eine narzisstische Nerdigkeit zu sein, die eine eigene vermeintliche Authentizität und Besonderheit behauptet, die es eigentlich gar nicht gibt, da man selbst auch nichts anderes ist als ein kleines Steinchen in dem großen Mosaik. Aber wer will sich das als Pubertierender schon selbst gerne eingestehen? Diesen ganzen Erstpressung-, limited edition-, super heavy vinyl-Fetischismus schätze ich ähnlich ein, auch wenn die Zielgruppe dafür etwas älter und einkommensstärker sein mag. Sicher ist das schlicht auch nichts anderes als Marketing. Mit dem ständigen Remastering von CD-Re-Issues entsprechend dem gerade modischen Klangideal ist es wahrscheinlich nicht viel anders.

Aber für mich dreht sich diese Diskussion auch inzwischen etwas im Kreis. Ich persönlich finde es schön, dass Pop ein Bewusstsein für die eigene Geschichte entwickelt hat und dass in vielen Fällen sehr kenntnisreich und geschickt damit umgegangen wird. Dass in anderen Fällen damit auf banale Art und Weise, zusammenhanglos oder nur wiederkäuend umgegangen wird, finde ich weniger schön. Ich fürchte aber, das ist nicht zu vermeiden. Vielleicht fordert das der Markt so.

Gleichzeitig sehe/höre ich aber auch viel Musik, die sehr – äh …. – modern ist und die sich nicht in erster Linie auf Althergebrachtes bezieht. Es ist jedem freigestellt sich dafür zu interessieren oder auch nicht. Aber dann soll man sich doch bitte nicht darüber beklagen, dass angeblich im Pop nichts neues mehr geschieht.

Damit empfehle ich mich und lege Flying Lotus auf: http://www.youtube.com/watch?v=NnWy5qgdUqE

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)