Re: Retromania | ist Pop tot?

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friedrich

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tolomoquinkolomReynolds hat über etwas nachgedacht, was ihn beschäftigt hat – und daraus ein Buch gemacht, das sich mit Popkultur befasst. Ob seine Leser damit etwas anfangen oder nicht, ist eine andere Sache und auch unterschiedliche Einordnungen sind vollkommen legitim. Ob es in der heutigen Church of Pop tatsächlich ‘alternativlos’ ist, zu akzeptieren, dass bei den von dir erwähnten technischen Bedingungen und Möglichkeiten nicht mehr drin ist (oder war) als die Flucht in die Vergangenheit wäre eine Überlegung wert. Die ‘grundlegende Frage ist nicht ‘so fucking what?’, sondern: ‘was bringt Leute dazu, nicht der Musik von Morgen nachzujagen, sondern sich der Musik von Gestern zuzuwenden?’

Die Musikwissenschaftlerin Livingston sagt, dass die Aktivitäten innerhalb der Popmusik, die man im Jahrzehnt des ‘Re’ feststellen kann, ‘hauptsächlich Phänomene der Mittelklasse seien, die mit Aspekten des gegenwärtigen Lebens unzufrieden bzw. davon überfordert, sich an Identitätskonstruktionen versuchen.’ Diese Gesellschaftspartizipierer suchen sich eine persönliche Wolke, eine Wohlfühlzone, die unangenehme Aspekte der realen, aber unerwünschten Gegenwart aussperrt.

Findest du nicht, dass die Zahl der ‘Rosinen’ abnimmt? Bist du mit dieser Entwicklung zufrieden oder hast du dich nur damit abgefunden, weil es zweifellos wichtigere Dinge im Leben gibt? Und ist dir bei deiner Betrachtung bewusst, dass diese Rahmenbedingungen zu einem großen Teil von Unterhaltungskonglomeraten, diverse Plattformen bevölkernden Avataren (hinter denen teilweise wiederum Industrie- und Privatinteressen stecken) und Interessen der Betreiber solcher Datennetze bestimmt werden?

Auch wenn ich damit nicht persönlich angesprochen bin:

Weiter oben hatte ich meine Ansicht, dass ein kritisches Traditionsbewusstsein auch den Pop nur bereichern kann, schon ausführlich dargelegt.

Es mag sein, dass eine wirtschaftlich saturierte, aber durch eine sich immer schneller verändernde Welt verunsicherte Mittelklasse sich nach der „guten alten Zeit“, als es auch noch „richtige“ Musik gab, zurücksehnt – eine Musik, mit der paradoxerweise diese heute saturierte Mittelklasse wiederum in ihrer eigenen Jugend die Welt so schnell wie möglich verändern wollte. Aber war das nicht immer so? Vielleicht ist diese Zielgruppe heute bloß deutlich besser sichtbar, da sie aufgrund geburtenstarker Jahrgänge, der eigenen Sozialisation durch Pop und eines relativ hohen verfügbaren Einkommens als Zielgruppe von Bedeutung ist. Sie kann es sich leisten, jeden Donnerstag auf dem Nachhauseweg vom Büro am Bahnhofskiosk – oder besser: Beim Zwischenstopp mit der Familienkutsche an der Tankstelle – den Rolling Stone zu kaufen und die x-te Wiederveröffentlichung der dort immer gleichen abgefeierten alten Helden und der per Listen zum gesicherten Kanon erklärten alten Alben am Wochenende bequem im Internet ordern. Oder von Epigonen, die sich daran orientieren. Ich selbst bin zwar auch ein alter Sack – wenn auch ohne Familienkutsche – aber finde das langweilig. Aber es darf ja jeder nach seiner Facon selig werden.

Ich würde aber vehement widersprechen, wenn Du sagst, dass die Zahl der „Rosinen“ abnimmt. Ich würde ebenso der Aussage widersprechen, dass heute weniger „neuer“ Pop produziert wird: Es gibt massenhaft davon! Er wird nur von der Lesergruppe des Rolling Stone und von vielen hier im Forum aktiven Teilnehmern nicht entsprechend wahrgenommen. Wo sind denn hier z.B. die Posts über die bunt schillernde, völlig unübersichtliche, sich immer wieder selbst überholende und damit auch für mich irritierende Electronica-Szene? Das wird hier nur als Marginalie behandelt, während alleine der Sound einer Stones Re-Issue ein Diskussionsthema ist. Vielleicht wird es von einer Generation, die in einer als guten alten Pop-Zeit empfundenen Vergangenheit gefangen ist, bloß nicht als Pop empfunden. Ist es aber. Doof, aber selber schuld!

Heute morgen bei mir auf dem Plattenteller: http://www.youtube.com/watch?v=ZBrNy4OAalI

Leider nur ein Remix, das Original ist not available.

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)