Re: Retromania | ist Pop tot?

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sonic-juice
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Nachdem ich mich jetzt nochmal durch die viel zu vielen Seiten von „Retromania“ gequält habe, bleibt mein Fazit: das Buch ist die manifestierte Midlife Crisis des Autors, es macht mir von der ersten bis zur letzten Seite schlechte Laune und ist bei aller durchscheinenden (Selbst-)Ironie und vielen durchaus akkurat recherchierten Darstellungen eine larmoyante Polemik, die viel Aufwand betreibt, eine vorgefasste Meinung bzw. ein Bauchgefühl mit Reflektionen und Anekdoten zu unterfüttern.

Am Ende bin ich immer noch nicht schlauer, was eigentlich das wahre Problem (des Autors) ist. Selbst wenn sich zur Zeit irgendetwas popgeschichtlich ganz aufregendes ereignen würde, wäre Simons in seinem Alter wohl kaum die Zielgruppe dafür. Bemitleidet er die Jugend, weil sie nicht so tolle Zeiten haben kann wie er während der frühen 80er? Vielleicht fehlt den Kids ja gar nichts? Vielleicht fühlen sie sich mit Sachen wie X-Box, Online Gaming, Skaten, Comics, Blogs, Forums, diversen musikalischen Mikroszenen ohne den großen übergreifenden neuen Popentwurf ja ganz wohl? Wenn sie heute zu Justin Bieber, Lady Gaga, Grimes, Frank Ocean, Cro oder Jake Bugg pilgern und dabei haufenweise „teenage kicks“ kriegen wie Reynolds vielleicht bei Gang of Four vor 30 Jahren, was fehlt dann wem? Aber er fragt sie auch nicht, was für eine solche Untersuchung eigentlich naheliegender gewesen wäre als naserümpfend durch irgendwelche Rock’n’Roll-Museen zu wandern.

Davon abgesehen ist Pop als „Novelty“ ja nur ein bestimmtes Phänomen der populären Musikkultur. Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn Künstler heute auf die Tradition etablierter musikalischer Genres wie Soul, Rhythm & Blues, Jazz, Hip Hop, Country, Reggae und Folk aufbauen und diese Formen mit aktuellen Texten und Gefühlen füllen? Diese Genres verdienen es, fortgeschrieben und neu interpretiert zu werden. Genauso wie es hoffentlich immer Thriller, Western, Romantic Comedies und Sci Fi im Kino oder den großen Gesellschaftsroman in der Literatur geben wird. Es reicht im Grunde, dass eine neue Stimme in eigenen Worten das gleiche besingt wie seine viele Vorgänger, damit es aktuell und anschlussfähig für Gleichaltrige ist.

Man darf auch nicht vergessen, dass das 20. Jahrhundert in Bezug auf die Geschwindigkeit der Entwicklung und Diversifizierung kultureller Formensprachen absolut beispiellos war. Was sich früher allenfalls über mehrere Generationen bzw. Epochen langsam entwickelt hat (etwa von der Klassik zur Romantik), passierte in der Popkultur binnen weniger Jahre. Jetzt darüber zu klagen, dass in der letzten Dekade vielleicht etwas weniger Neues passierte als in den davor liegenden Jahrzehnten, ist schon sehr dekadent und kurzsichtig.

Ich vermisse jedenfalls nichts – vielmehr komme ich kaum hinterher damit, Popmusik von heute halbwegs vollständig zu erfassen (geschweige denn die 100 Jahre zuvor)- und lasse mir das von Reynolds & Co. auch nicht einreden. Wenn Pop, so wie er ihn versteht, tot ist, dann sei es so. Und wenn tatsächlich irgendwann mal wieder ein Bedarf für umstürzlerische neue Sounds in der Luft liegen sollte, dann werden sich dafür auch Künstler finden. Talent gibt es immer, es äußerst sich nur je nach Umfeld und Zeit auf unterschiedliche Weise. An uns Alten wird das aber wahrscheinlich ohnehin vorbei gehen, genauso wie man ggf. einst Dark Wave, Acid House, Rave,Techno, Aggro Berlin, Emo oder Visual Kei als Subkultur nicht verstanden hat.

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