Re: Retromania | ist Pop tot?

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tolomoquinkolom

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Staggerlee
Das Internet bedeutet was?

Welche Auswirkungen hat das Ende der Plattenindustrie, dem Ende des Urheberrechts (und somit auch den Begriff des Künstlers als Urheber des Werks) und einen unendlichen Pool an Quellen, bzw. Zugriff auf Quellen? Was bedeutet das für die Entwicklung von Popmusik?

Aus Plattenfirmen sind Dependancen von Unterhaltungskonglomeraten geworden. Aus Vinyl wurde iMusic. Aus künstlerischem Urheberrecht wurde künstlerverachtendes Filesharing. Aus Popkultur wird Internet- und Plattformkultur. Aus unendlicher Vielfalt wird unendliche Unübersichtlichkeit. Und nach Reynolds wird durch diese digitale Kultur der Einzelne immer mehr zur textuellen Entität, zum bloßen Empfänger und Sender von Daten, ein winziges Pünktchen im riesigen Netzwerklabyrinth.

Dem hyperaktiven Fieberwahn der Hobby-Kuratoren und Amateur-Archivare im Internet – diesem Zwischending aus Müllhalde und Arche Noah des 21. Jahrhunderts – und der allgemeinen Mitteilungs- und Kommentierextase ist nichts zu banal, zu belanglos, um in diese virtuelle Welt hineingeworfen zu werden. Das gigantische Archiv wird zum Anarchiv, zu einer Ansammlung von Erinnerungsschrott und Datenmüll. Für die Popmusik könnte dies bedeuten, dass sie nicht unter diesen Bedingungen von Unbegrenztheit überleben wird und ebenfalls immer banaler, beliebiger und belangloser wird, um schließlich im Meer der ungenutzten Möglichkeiten unterzugehen.

War Popmusik die meiste Zeit Innovativ, oder waren es eher kurze Augenblicke, die neue Stilrichtungen hervorgebracht haben- worauf eine lange Zeit der Konsolidierung folgte. Sind wir in einer Konsolidierungsphase und wen ja seit wann? Auffällig ist für mich nach wie vor, daß mir keine Stilrichtung der 0er Jahre einfällt die aus einer wirklich neuen Subkultur entstanden wäre, was nicht bedeutet das kein individueller Ausdruck mehr möglich ist.

Das was du als Konsolidierungsphase bezeichnest, sieht eher nach einer entgültigen Abwicklung aus. Ich glaube auch nicht, dass sich Innovationen ausschließlich an neuen Stilen in der Popmusik festmachen lassen. Anstöße könnten auch aus anderen Bereichen kommen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob noch ein allgemeines Interesse besteht und Innovationen überhaupt noch willkommen wären.

Die forcierte Flucht in Retro-Wohlfühlzonen könnte aber möglicherweise auch ein Schutz- oder Abwehrmechanismus gegen die zunehmenden Auswirkungen des Internets auf Menschen sein. Aufmerksamkeitsdefizitstörungen – ausgelöst durch ein Überangebot, durch kaum mehr zu bewältigende Reizflut aus den Datenwelten – werden immer deutlicher und dürften gleichermaßen ein Problem für Musiker wie Konsumenten sein. Der Technologie- und Internetkritiker Nicholas Carr stellt dazu passend in einem seiner Bücher über De-Evolution die Frage: ‘Wer bin ich, wenn ich online bin …und was macht mein Gehirn solange?’
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