Re: Retromania | ist Pop tot?

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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AlbertoDiese Entwicklung scheint ja aber gerade nach dem Ende von Techno unterbrochen worden zu sein. Nach dem Postpunk kamen noch HipHop und Techno. Danach scheint die Popgeschichte ans Ende ihrer Entwicklung gekommen zu sein. Seither ist alles retro. So sagt es jedenfalls die These von der Retromanie. Die Nullerjahre werden allgemein als Phase des Stillstands charakterisiert. Entsprechend ist die Musik. Aber wie geht es jetzt weiter? Bleibt der Stillstand? Macht doch noch mal einer was Innovatives?

bullschuetzEines hat sich sicher fundamental verändert gegenüber den 60er-Jahren: Damals waren die Hörer jung, trafen auf teilweise massive Abweisung der Älteren und hatten schon allein deshalb das Gefühl, dabei zu sein, als etwas Aufregendes, Aktuelles, Neues passierte. Das die im Alten gefangene Generation nicht verstand und deshalb bedrohlich fand und aggressiv ablehnte.

Heute hingegen gibt es solche Dinge wie den „Rolling Stones“-Thread im „Rolling Stone“-Forum oder die Jahresbestenliste einer aktuellen Musikzeitschrift, die „Tempest“ auf Platz 1 führt.

Nicht_vom_ForumDazu kommt, dass eine „Jugendliche“ als Gruppe überhaupt erst in den 50ern erfunden wurden. Davor gab es Kinder, Erwachsene und nichts dazwischen. Seit dann diese „ersten Jugendlichen“ laute Musik, Drogen, lange Haare, Jeans, etc. für sich besetzt haben, ist Musik (und der Rest der Liste) als Abgrenzung zu den Eltern im Grunde erledigt. Allerspätestens nach Hip-Hop und Rave erfolgt die Abgrenzung gegenüber der Ü40-Altersgruppe eben über Facebook, Twitter, Smartphone und Co. und nicht mehr über Musik. Was dann im nächsten Schritt den Weg frei macht für a) reine Unterhaltungsmusik a la Reamon und Justin Bieber und b) „intellektuelle“ Popmusik aka Kunstlied 2.0 mit „Geschichte“ und/oder Retro-Aspekten fürt Spezialisten.

StaggerleeEin Satz vorweg: Postpunk spiegelte meines Erachtens das Ende der großen Erzählung der Moderne wieder (sagt ja schon der Name)- ab diesem Zeitpunkt konnte die Entwicklung der Popmusik nicht mehr als lineare Enwicklung betrachtet werden: Roxy Music gehört m.E. hier rein- deswegen waren sie ihrer Zeit voraus (und somit hochinnovativ)- mehr „post“ geht gar nicht.

Und dennoch stellen sich mir ein paar Fragen, die sich mir beim Durchlesen des Threads stellen und die ich als nach wie vor nicht beantwortet sehe (auch um die Diskussion wieder an den Ausgangspunkt zurückzuführen):

1.) Popmusik spiegelte meist die technologische Entwicklung wieder, z.B. elektrische Gitarre- Rock`n Roll, neue Studiotechnologien- Sgt. Pepper (ich weiß im Forum verhasst); Computer- Kraftwerk, Sampling etc. Das Internet bedeutet was? Und: Welche Auswirkungen hat das Ende der Plattenindustrie, dem Ende des Urheberrechts (und somit auch den Begriff des Künslers als Urheber des Werks) und einen unendlichen Pool an Quellen, bzw. Zugriff auf Quellen? Was bedeutet das für die Entwicklung von Popmusik?

2.) War Popmusik die meiste Zeit Innovativ, oder waren es eher kurze Augenblicke, die neue Stilrichtungen hervorgebracht haben- worauf eine lange Zeit der Konsolidierung folgte. Sind wir in einer Konsolidierungsphase und wen ja seit wann? Auffällig ist für mich nach wie vor, daß mir keine Stilrichtung der 0er Jahre einfällt die aus einer wirklich neuen Subkultur entstanden wäre, was nicht bedeutet das kein individueller Ausdruck mehr möglich ist.

3.) In einer liberalen Gesellschaft des anything goes, wo Revolution von der Werbeindustrie längst vereinnahmt ist, Popmusiker bei den Staatschefs eingeladen werden und Popmusik im Wahlkampf genutzt wird, die Eltern selbst mit Popmusik groß geworden sind- gegen was soll hier die popmusikalische Revolution stattfinden? Taugt Pop überhaupt noch dazu sich darüber zu definieren?

Genossinnen und Genossen, die Revolution ist vorbei: Pop hat gesiegt!

Vielleicht ist es tatsächlich so, dass die großen Gesellschaftskonflikte, zumindest was Generationenkonflikte, den politischen Links-Rechts Konflikt und die Geschlechterrollen betrifft, zu Ende ausgetragen und aufgelöst worden sind. Kein Mensch fühlt sich mehr durch Sex&Drugs&R’n’R provoziert, eine Partei, die vor 30 Jahren noch unter latentem Verdacht des Landesverrats stand, stellt in BW den Ministerpräsidenten, der größte Schwulenclub der Republik, wenn nicht sogar Berlins, ist ein internationaler Touristenmagnet und wird von einer biederen Boulevardzeitung dafür ausgezeichnet. Die Metal-Szene darf jedes Jahr in einem norddeutschen Dorf ein Wochenende lang lautstark eine Popversion Satans anbeten und wie Gespenster verkleidete Gothics treffen sich jeden Freitagabend am Alexanderplatz. Bis vor ein paar Jahren konnte man in Berlin an einen Sommertag sogar nackt auf der Straße tanzen. Wenn stört’s? Niemanden! Im Gegenteil, das alles ist akzeptiert und schon längst auch in den Wirtschaftskreislauf integriert.

All die Rebellionen, Stellvertreterkriege und Abgrenzungsscharmützel, die in der Popmusik des 20. Jahrhunderts angezettelt wurden, haben sich erledigt. Jeder hat sein Nische gefunden, in der er sich nach Lust und Laune selbst verwirklichen darf, solange er damit niemand anderem auf die Füße tritt. Die liberale pluralistische Gesellschaft ist Wirklichkeit geworden und sie muss nur noch gegen eines verteidigt werden – gegen die Gegner des Pluralismus.

Wenn ich den Wikipedia-Eintrag über Bushido aufrufe, kann ich schon im Inhaltsverzeichnis die Begriffe Rechstsextremismus, Frauen- und Homosexuellenfeindlichkeit, Antisemitisms Jugendgefährdung, Körperverletzung und Beleidigung lesen. Ein bunter Strauß an Gemeinheiten, der kollektive Empörung auslöst. Aber damit ist ihm mediale Aufmerksamkeit sicher. (Bezeichnenderweise habe ich noch nie einen Ton von Bushido gehört, aber trotzdem kenne ich ihn) Ansonsten ist ja alles erlaubt: Man darf alt oder jung, schön oder hässlich, dick oder dünn, schwul oder hetero, laut oder leise, links oder rechts, retro oder – äh … – modern sein, jeder darf nach seiner Facon selig werden. Welche Mauern will man dann noch einreißen, welche Fesseln sprengen? Am ehesten sehe ich noch Potential an den „Rändern“ der Gesellschaft, in der Mischung aus Migrationshintergrund, kultureller Abschottung und Hartz IV. Das scheint ja auch das Milieu zu sein, aus dem jemand wie Bushido kommt.

Früher, als die Welt noch in Ordnung und damit übersichtlich war, galten die Hipster in ihren wechselnden Erscheinungsformen als Protagonisten jugendlichen Aufbegehrens, mögen es Beatniks, Hippies oder Punks gewesen sein. Heute kann keiner mehr sagen, wofür oder wogegen der Hipster in Berlin-Friedrichshain überhaupt steht, außer für Hornbrillen, schlecht sitzende Röhrenhosen, Jutebeutel und Club-Mate. Deren musikalischer Überbau scheint ja auch aus einer Collage verschiedener Retro-Stile zu bestehen. Neulich sah ich auf einer Bühne eine junge Frau Ukulele spielen. Man erklärte mir, das sei hip. Naja …

Das alles heißt aber nicht, dass es keine neue und aufregende Musik mehr gibt. Sie drängt sich nur nicht mehr so in den Vordergrund. Sie ist auch nicht mehr so mit der Aura des Aufrührerischen und Rebellischen behaftet und sie ist nicht mehr das Medium einer Jugendbewegung, die sich gegenüber der älteren Generation Gehör verschaffen will. Vielleicht kann man sich so auch erklären, dass Modernität Innovation von Musik heute nicht mehr zwangsläufig etwas mit dem Alter der Urheber zu tun hat. Möglicherweise nicht mal was mit dem Alter des entsprechenden Publikums. 20-Jährige gefallen sich in Retro-Rollen aber alte Säcke mit teilweise sogar akademischen Hintergrund verschieben die musikalischen und visuellen Grenzen und werden damit vom Goethe-Institut auch noch als Repräsentanten zeitgenössischer deutscher Kultur um die Welt geschickt.

Und das ist doch auch gut so!

http://www.youtube.com/watch?v=YE_cvmUcF2E

(Frank Bretschneider, Jahrgang 1956)

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)