Re: Retromania | ist Pop tot?

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Nana, ich finde Deine Überlegungen schon interessant, sonst würde ich ja nicht immer wieder mal antworten. Ich glaube bloß, dass Du falsch liegst. Ich versuche mich mal an Deinen Zitaten abzuarbeiten, um die Unterschiede kenntlich zu machen.

tolomoquinkolomÜber die Notwendigkeit der Verarbeitung zurückliegender popkultureller Einflüsse im Zitat-Pop muss nicht viel diskutiert werden.

Nein, das greift mir viel zu kurz – aus meiner Sicht wäre es so richtiger: „Über die Notwendigkeit der Verarbeitung zurückliegender Einflüsse in der Kunst muss nicht viel diskutiert werden. Wenn man das mal akzeptiert, merkt man, wie die theoretisch so hübsch saubere Trennung zwischen „Rückwärtsgewandtheit“ und „Innovation“ anfängt zu verschwimmen.

tolomoquinkolomSampling ist Rückgriff (und in diesem Sinne retro). Eher Zapping-Tool der Künstlichkeit als der Kunst. Mehr Trödelladen als Kreativ-Workshop. Beim Sampling wird von den Hervorbringern nichts real nachgespielt bzw. interpretiert (wie es z.B. beim nacheifern junger Künstler oder Bands ihrer Vorbilder der Fall ist), sondern bereits fertiges Material, also vorhandene und vorrätige Artefakte (Stimme, Instrument, Musikstück, Excerpt) zurückliegender Pop-Historie kopiert und dupliziert. Künstlerisches Handwerk oder Handschrift haben keinerlei Bedeutung (nicht nur die Cut- & Mix-Technik im Hip-Hop kommt aus musikalischer Sicht ohne besondere handwerkliche Geschicklichkeit aus).

Das kommt mir wie pure Polemik vor und obendrein falsch. Dass nicht „real“ nachgespielt wird durch Saitenanschlagen, Pianotastendrücken oder Trommelbehämmern, ist natürlich richtig. Aber was sagt das aus?
Und dass beim Sampeln nur „kopiert und dupliziert“ wird, ist, mit Verlaub, Stuss. Es wird verändert, gepitcht, de- und rekontextualisiert, kombiniert, geschnitten, montiert, da werden Tonhöhen und damit Klangcharakteristika verändert, Geschwindigkeiten und damit Groove-Charakteristika manipuliert, da wird aus herausgeschnittenen Schnipseln etwas völlig anderes als das, was im Ursprungszusammenhang zu hören war. Dass man dazu keine handwerkliche Geschicklichkeit braucht, bezweifle ich aus meiner eigenen, durchaus von Dilettantismus geprägten Erfahrung. Vor allem aber: Ist nur Kunst, was unter Aufwendung handwerklicher Geschicklichkeit hergestellt wird? Es kommt doch wohl auf andere Dinge an. Im Fall Sample zum Beispiel: Rhythmusgefühl, Stilgefühl, Groove-Kompetenz, Vision, Ideenreichtum, Kompetenz beim Sich-Zurechtfinden im riesigen Archiv der Möglichkeiten. Man nehme bloß mal „Eye know“ von de La Soul. Die Art, wie da aus einer gepfiffenen Melodielinie von Otis Redding etwas herausgeschnitten und durch Loop-Technik zu etwas ganz anderem gemacht wird, während doch noch das Ursprungsmaterial erkennbar und dadurch ein Traditionsbezug, eine bewusste Einordnung in die schwarze Musikgeschichte transparent gemacht wird … Die Art, wie da ein Steely-Dan-Bläserriff genutzt wird, Material also aus einem ganz anderen Stil-Universum … Die Art, wie ein halbes Dutzend weitere Tracks aus dem Soul-Genre mit hineingeschraubt werden, die aber, oh Wunder, sensationell zusammengrooven und ein Werk wie aus einem Guss ergeben … Das ist von großer Raffinesse und großem Geschichtsbewusstsein – und gleichzeitig: Wer wollte ernsthaft behaupten, dass das nicht innovativ ist, dass da nicht eine ganz neue Nummer draus erwachsen ist, dass da kein handwerkliches Können wirkt (von der Sample-Montage bis zum virtuosen Rap, der drübergelegt ist), dass da keine hochindividuelle künstlerische Handschrift erkennbar wird?

tolomoquinkolomWenn es eine Art Kunst ist, dann – nach Meinung von Diedrich Diederichsen – eine der Reproduktion und damit auch der Fälschung. Für Zitiermaschinisten (Sampling-Künstler) geht es darum, sich mit Hilfe von Archivmaterial und daraus herausfiletierten Schnipseln – also den künstlerischen Hervorbringungen anderer – in die Welt hineinzumontieren.

Wieder Polemik, diesmal auch noch moralinsauer („Fälschung!“).

tolomoquinkolomDas Selbstverständnis des Künstlers in der Popkultur, der aus sich selbst schöpfend, eigenverantwortlich und kreativ vorgeht, hat sich damit und mit Hilfe neuer digitaler Möglichkeiten, wenn nicht erledigt, so doch radikal verändert.

Erledigt? Halte ich für Unsinn. Radikal verändert? Darüber kann man streiten. Aber: Wenn sich das Selbstverständnis des Künstlers dank neuer digitaler Möglichkeit radikal verändert, wie Du sagst – dann wäre das doch genau, was ich gesagt habe: Ein Innovationshebel. Neue Möglichkeiten, die zu radikalen Veränderungen führen: Nicht gerade die Definition von Retro, oder? Entsprechend abweisend haben viele Vertreter der alten Popschule, viele Fans der guten alten handgemachten Ropckmucke damals auf die Heraufkunft von Hip-Hop reagiert. Stichwort: „Ist doch keine Musik mehr …“ Denen war das defintiv viel zu innovativ.

tolomoquinkolomSampling bzw. bloße Veränderung der Anordnung der Splitter allein reicht jedoch nicht aus. Kreativ Neues entstünde erst durch ein anderes, vom Künstler selbst hinzugefügtes Element und zwar eines ohne pophistorische Vergangenheit – eben ein neues.

Was wäre denn ein „Element ohne pophistorische Vergangenheit“? Also, mir fällt da auf die Schnelle nicht viel ein – da könnte man wohl allenfalls bei Scott Walker fündig werden (aber selbst da habe ich heftigste Zweifel). Aber den findest Du ja auch wieder nicht gut. Abgesehen davon: Wollte irgendwer bezweifeln, dass zum Beispiel „Eye Know“ kreativ Neues bietet, von den Künstlern selbst hinzugefügte Elemente?

Zusammengefasst: Deinen Fundamentalverdacht gegen das Sampling finde ich nach näherem Nachdenken noch abwegiger als am Anfang. Aber danke für die provokative und damit inspirierende These. Und das ist keine Ironie!

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