Re: Retromania | ist Pop tot?

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Retromania | ist Pop tot? Re: Retromania | ist Pop tot?

#8682711  | PERMALINK

tolomoquinkolom

Registriert seit: 07.08.2008

Beiträge: 8,651

atomDie Kunst des Samplens besteht doch darin aus vorhandenem Material etwas Neues zu kreieren, ist also damit zukunftsweisend. So war es in Anfängen bei „Strawberry Fields Forever“, wurde verfeinert bei KLF, Coldcut und eben M/A/R/R/S und dann perfektioniert bei „Endtroducing“. Zumindest unter technik-ästhetischen Gesichtspunkten.

Jan LustigerIch würde sogar sagen, Sampling ist noch viel weniger Retro-anfällig als es das klassische Gitarre-Bass-Drums-Bandprinzip ist. Gesamplet wird nicht, um genau das selbe nochmal zu machen, sondern um daraus etwas neues zu kreieren, wohingegen Bands sich vordergründig oft erst einmal gründen, um gewissen Vorbildern nachzueifern. Das ist nun mal alles etwas differenzierter zu betrachten, und eine vereinfachende Gleichung wie „Sampling = Wiederverwertung von bereits Vorhandenem = Retro“ bringt darum gar nichts.

bullschuetz Jede Musik, auch „neue“, „innovative“, entsteht in Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit vorhandenen Musiziertraditionen, soweit, denke ich, dürfte Einigkeit bestehen. Und nun ist die Frage, ob Sampling hier neue Exzess-Maßstäbe des Rückbesinnungswahns setzt – dieser Sicht scheinst Du zuzuneigen, tolo, und ich will begründen, warum ich das für falsch halte.

Tolo, bei Dir scheint mir eine vereinseitigte Wahrnehmung des Sampling-Phänomens zu greifen, wenn Du Sampling als irgendwie stärker vergangenheitsbezogen und weniger „kreativ“, also weniger „Eigenleistung“ erfordernd deutest als andere Musizierweisen. Sampling ist doch im Vergleich zur traditionell per Nachmusizieren realisierten Übernahme von Vorhandenem schlicht eine produktionstechnisch andere („neue“ und damit Innovationen geradezu ermöglichende) Art, Vorhandenes zu verwenden, zu bearbeiten und in neue Kontexte zu stellen. Wenn wir von „Übernahme“ oder „Zitat“ reden, wird das deutlicher: Es geht immer darum, Melodien zu übernehmen oder zu zitieren, Textbrocken, Instrumentierungsdetails, Genre-Stilistiken – und man kann das auf verschiedene Art tun; indem man sie zum Beispiel selber neu einsingt und einspielt (wie das Bob Dylan, in den 60er-Jahren als bedeutender Innovator gefeiert, von Anfang an exzessiv getan hat) oder indem man in einem Tonstudio aufgenommene Partikel ausschneidet, in Tempo und Tonhöhe verändert und in neue Kontexte setzt. Strukturell ist das Vorgehen gleich, nur das produktionstechnische Handwerk unterscheidet sich. Wenn Kanye West ein Bläserriff aus Curtis Mayfields „Move on up“ aufnimmt, entschleunigt, mit neuen Beats, neuem Text und neuer Songstruktur zusammenbringt, ist das nicht mehr oder weniger „Retro“, als wenn Bob Dylan in „Song to Woody“ eine Woody-Guthrie-Melodie verwendet. Die produktionstechnische Art der Übernahme (musizierhandwerklicher Nachvollzug oder Nutzung studiotechnischer Apparaturen) sagt überhaupt nichts aus über den Grad der dabei eingesetzten kreativen Eigenleistung – wäre es anders, müsste man ja eine Coverband (spielt selber statt zu sampeln) für kreativer, eigenständiger, weniger retro halten als jeden HipHop-Act. Letztlich würde man damit bei der Idee landen, dass „das gute alte Rockhandwerk“ irgendwie „echter“, wertvoller, authentischer sei als das kreative Jonglieren mit den avancierten Möglichkeiten moderner Technologien – willst Du das echt so sehen, tolo?

Ich wage die Gegenthese, dass der Siegeszug des Samplings, erleichtert durch technologische Innovationen, in der Popmusik der 80er-Jahre einen enormen Innovationsschub ausgelöst hat. Und schon davor wurde Sampling (damals noch technisch schwieriger zu realisieren und deshalb kein in der breiten Musikszene eingesetztes Verfahren) in der Avantgarde, musique concrete zum Beispiel, erprobt. Es handelte sich historisch also nicht um eine Retro-Technologie, sondern um das genaue Gegenteil: einen Innovationshebel.

Sampling: Tool, Fälschung, Kopie, Innovation, Rückwärtsschub, Retro?

Es ist amüsant, dass Leute, die auf sog. Authentizität von Musik bzw. der von Künstlern großen Wert legen, gleichzeitig von den Möglichkeiten der Sampling-Technik schwärmen (ich beziehe mich bei dieser Beobachtung auf mein persönliches Umfeld, denn mir ist natürlich nicht bekannt, wie sich das im Forum verhält).

Zitat-Pop, Vintage und Retro sind unterschiedliche Dinge. Über die Notwendigkeit der Verarbeitung zurückliegender popkultureller Einflüsse im Zitat-Pop muss nicht viel diskutiert werden. Vintage ist ein leidlicher, sehnsüchtiger, nostalgischer An- oder Einfall. Retro hat mit Vergangenheit und Erinnerung zu tun und enthält mindestens ein Element der exakten Wiederholung, die eine Nachbildung eines alten Stils erst erlaubt. Ein Merkmal von Retro-Künstlern ist es, nicht zitiert zu werden; man hält sich an die Originale.

Sampling ist Rückgriff (und in diesem Sinne retro). Eher Zapping-Tool der Künstlichkeit als der Kunst. Mehr Trödelladen als Kreativ-Workshop. Beim Sampling wird von den Hervorbringern nichts real nachgespielt bzw. interpretiert – wie es z.B. beim nacheifern junger Künstler oder Bands ihrer Vorbilder der Fall ist -, sondern bereits fertiges Material, also vorhandene und vorrätige Artefakte (Stimme, Instrument, Musikstück, Excerpt) zurückliegender Pop-Historie kopiert und dupliziert. Künstlerisches Handwerk oder Handschrift haben keinerlei Bedeutung (nicht nur die Cut- & Mix-Technik im Hip-Hop kommt aus musikalischer Sicht ohne besondere handwerkliche Geschicklichkeit aus). Der Unterschied liegt also in der Aneignung.

Wenn es eine Art Kunst ist, dann – nach Meinung von Diedrich Diederichsen – eine der Reproduktion und damit auch der Fälschung. Für Zitiermaschinisten (Sampling-Künstler) geht es darum, sich mit Hilfe von Archivmaterial und daraus herausfiletierten Schnipseln – also den künstlerischen Hervorbringungen anderer – in die Welt hineinzumontieren. Das Selbstverständnis des Künstlers in der Popkultur, der aus sich selbst schöpfend, eigenverantwortlich und kreativ vorgeht, hat sich damit und mit Hilfe neuer digitaler Möglichkeiten, wenn nicht erledigt, so doch radikal verändert. Sampling bzw. bloße Veränderung der Anordnung der Splitter allein reicht jedoch nicht aus. Kreativ Neues entstünde erst durch ein anderes, vom Künstler selbst hinzugefügtes Element und zwar eines ohne pophistorische Vergangenheit – eben ein neues.

Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit Innovation, Ästhetik, Kreativität, Klangvielfalt, der Sampling-Technik und elektronischer Popmusik wäre die digitale Klangerzeugung als perfektes Imitat anderer, nichtelektronischer Instrumente. Im Sampling-Land der Fälschungen, Simulationen und Illusionen entsteht mittels Software-Emulation mit Hilfe eines Keyboard-Interface z.B. ein Saxophon-Solo oder auf Tastendruck auch schon mal eine komplette Holzbläser-Sektion oder gleich ein ganzes virtuos ‘aufspielendes’ Fake-Orchester. Samplings dieser Art begegnet man in vielen Werken unterschiedlichster Musikstile – meist ohne es überhaupt noch zu bemerken. Die Nachahmung scheint perfekt und mit Physical Modelling werden Dinge wie Gehäuseresonanz, Einschwingung, Anschlagstärke u.ä. künstlich erzeugt, um der musikalischen Genusserfahrung zu genügen. Illusion tritt an die Stelle der Innovation und als nächstes sind die Interpreten fällig. Ich kann schon die Frage hören: wieso ist das wichtig und wen interessiert das?


Klick! Klick! :-)

.

--