Re: Retromania | ist Pop tot?

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Retromania | ist Pop tot? Re: Retromania | ist Pop tot?

#8682705  | PERMALINK

Anonym
Inaktiv

Registriert seit: 01.01.1970

Beiträge: 0

Danke, Jan Lustiger, atom und Genosse Schulz, für die Klarstellungen zur These „Sampling = Retro“, die mir auch extrem unhaltbar vorkommt.

Jede Musik, auch „neue“, „innovative“, entsteht in Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit vorhandenen Musiziertraditionen, soweit, denke ich, dürfte Einigkeit bestehen. Und nun ist die Frage, ob Sampling hier neue Exzess-Maßstäbe des Rückbesinnungswahns setzt – dieser Sicht scheinst Du zuzuneigen, tolo, und ich will begründen, warum ich das für falsch halte.

Tolo, bei Dir scheint mir eine vereinseitigte Wahrnehmung des Sampling-Phänomens zu greifen, wenn Du Sampling als irgendwie stärker vergangenheitsbezogen und weniger „kreativ“, also weniger „Eigenleistung“ erfordernd deutest als andere Musizierweisen. Sampling ist doch im Vergleich zur traditionell per Nachmusizieren realisierten Übernahme von Vorhandenem schlicht eine produktionstechnisch andere („neue“ und damit Innovationen geradezu ermöglichende) Art, Vorhandenes zu verwenden, zu bearbeiten und in neue Kontexte zu stellen. Wenn wir von „Übernahme“ oder „Zitat“ reden, wird das deutlicher: Es geht immer darum, Melodien zu übernehmen oder zu zitieren, Textbrocken, Instrumentierungsdetails, Genre-Stilistiken – und man kann das auf verschiedene Art tun; indem man sie zum Beispiel selber neu einsingt und einspielt (wie das Bob Dylan, in den 60er-Jahren als bedeutender Innovator gefeiert, von Anfang an exzessiv getan hat) oder indem man in einem Tonstudio aufgenommene Partikel ausschneidet, in Tempo und Tonhöhe verändert und in neue Kontexte setzt. Strukturell ist das Vorgehen gleich, nur das produktionstechnische Handwerk unterscheidet sich. Wenn Kanye West ein Bläserriff aus Curtis Mayfields „Move on up“ aufnimmt, entschleunigt, mit neuen Beats, neuem Text und neuer Songstruktur zusammenbringt, ist das nicht mehr oder weniger „Retro“, als wenn Bob Dylan in „Song to Woody“ eine Woody-Guthrie-Melodie verwendet. Die produktionstechnische Art der Übernahme (musizierhandwerklicher Nachvollzug oder Nutzung studiotechnischer Apparaturen) sagt überhaupt nichts aus über den Grad der dabei eingesetzten kreativen Eigenleistung – wäre es anders, müsste man ja eine Coverband (spielt selber statt zu sampeln) für kreativer, eigenständiger, weniger retro halten als jeden HipHop-Act. Letztlich würde man damit bei der Idee landen, dass „das gute alte Rockhandwerk“ irgendwie „echter“, wertvoller, authentischer sei als das kreative Jonglieren mit den avancierten Möglichkeiten moderner Technologien – willst Du das echt so sehen, tolo?

Ich wage die Gegenthese, dass der Siegeszug des Samplings, erleichtert durch technologische Innovationen, in der Popmusik der 80er-Jahre einen enormen Innovationsschub ausgelöst hat. Und schon davor wurde Sampling (damals noch technisch schwieriger zu realisieren und deshalb kein in der breiten Musikszene eingesetztes Verfahren) in der Avantgarde, musique concrete zum Beispiel, erprobt. Es handelte sich historisch also nicht um eine Retro-Technologie, sondern um das genaue Gegenteil: einen Innovationshebel.

--