Re: Retromania | ist Pop tot?

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tolomoquinkolom

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Beiträge: 8,651

bullschuetz tolo, eine Gegenthese:
Was, wenn die angebliche Rückwärtsgewandtheit der Popkultur nur ein Gewinn an historischer Tiefenschärfe ist?
Denkanstöße dazu:

– Was manche als Verkümmerung des Gegenwartsbezugs in der Popmusik kritisieren, ist in Wahrheit eine Bereicherung des Gegenwartsbezugs um den Faktor Geschichtsbewusstsein.
– Durch die digitale Archivierung schieben sich Vergangenes und Gegenwärtiges frei verfügbar ineinander im Modus der Gleichzeitigkeit.

Du meinst, als Abbild einer immer komplexer gewordenen Welt mit kaum noch zu erfassenden globalen Angeboten? So, als würden alle Erinnerungen die man als Mensch im Gedächtnis eingelagert hat, gleichzeitig auf einen Schlag hochgeschwemmt? Kein Gewinn, eher ein Overkill und purer Horror.

Historiker sind keine Zukunftsforscher. Und bei Pop geht oder ging es doch nicht um archäologische Artefakte, sondern um Verknüpfungen der Gegenwart, um Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen junger Menschen im Zusammenhang mit Verheißungen und ihrer Zukunft – nicht um Nostalgie. Dieser virale Befall durch Retromanie als Geisteshaltung (oder sogar als Weltanschauung) – und auf Grund des mächtigen Gravitationsfelds der Pop-Vergangenheit – hat aus einem Personenkreis, dem am meisten zuzutrauen wäre, sich wegweisend als Pioniere oder Erneuerer ins Unentdeckte voranzuwagen, Archivare bzw. Archäologen gemacht. Viele sind nur noch am Graben, Zerren und Ziehen. Die von dir vermutete Tiefenschärfe mag HDTV-Qualität haben, ist aber auch ausgeprägter Tunnelblick.

– Das Switchen zwischen aktueller Ausdrucksform und Nutzung bewährter Genre-Techniken ist heute leichter.

Was genau soll eigentlich mit dieser aktuellen Form ausgedrückt werden? Ich meine, was will ein DJ, ein Remix-Virtuose, ein Sample-King, ein Vintage-Künstler – und unabhängig von der Qualität – mit seinen Hervorbringungen mitteilen bzw. vermitteln?

– Da jeder via Internet/Tonträger/Dateien/Bildkonserven über einen enzyklopädischen Zugriff auf Vorangegangenes verfügt, wird es einerseits (aus Produzentensicht) leichter, sich in aktuellen Kunsthervorbringungen auf Vergangenes zu beziehen, andererseits (aus Rezipientensicht) leichter, zu erkennen, wo sich jemand auf Vergangenes bezieht.

Der entscheidende Faktor dürfte nicht das Sich-auf-Vergangenes-beziehen sein, sondern das Ausmaß, die Menge und die Gründe der Zitate. Wie Didi Neidhart (selbst DJ und Musiker) im deutschen Vorwort zu RETROMANIA anmerkt, wird man zwar von mal mehr, mal weniger kunstvollen Zitaten beeindruckt, aber weiß dabei immer weniger, ob diese Zitate oder Samples nun aus ästhetischen oder nur rein ökonomischen Gründen verwendet werden und zu hören sind.

– In den 60er-Jahren wurde Pop von vielen als geschichtslos empfunden (obwohl natürlich die Musiker auch damals natürlich an Vorläufer und Traditionen anknüpften), weil diese Vorläufer und Traditionen (zum Beispiel Bluesplatten) relativ schwer zugänglich waren im Vergleich zu heute (x Fernsehsender, youtube etc). Bezeichnend ist, wie in den 60er-Jahren zum Beispiel Bob Dylan vor allem als Innovator wahrgenommen wurde, während er sich de facto in eine breite, weit zurückreichende Tradition stellte (Smiths Folk-Anthologie, Blues etc als Stichworte). Aber damals gab es noch keine Theme Time Radio Hour, die solche Zusammenhänge transparant machte.

Standing and walking on the shoulders of giants.
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