Re: Retromania | ist Pop tot?

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Interessanter Thread, den ich aber nur diagonal gelesen habe. Aber sellbst das fand ich sehr anregend. Zu ein paar Sachen würde ich dann auch noch mal gerne meine Senf dazu geben.

Sonic JuiceNick Waterhouse wird allzuoft in irreführende Zusammenhänge von Winehouse bis 60s Soul gestellt, die offenkundig sehr wenig mit seinem Sound zu tun haben. Bei genauerem Hinhören ist es auch hier sehr schwer, überhaupt klare Vorbilder auszumachen, die früher mehr oder weniger genau so klangen. Gritty Blue Eyed R&B der frühen 60er jenseits von Georgie Fame und den britischen Beat Bands? Beispiele bitte!

Es behauptet niemand, dass Kitty, Daisy & Lewis oder Nick Waterhouse exakte Repliken von Künstlern früherer Epochen sind. Aber die verwendeten Versatzstücke sind doch offensichtlich. Das betrifft ebenso die Musik der Vorbilder aus den 50ern hier (R’n’R, Sun Records) oder den 60ern dort (R&B, Soul, Atlantic, Stax, you name them…), von der man sich wie aus einem Musterkoffer bedient wie auch die Covergestaltung, Haarschnitt, Hornbrille und selbst der Hinweis darauf, welche vintage Tonbandmaschine man benutzt. Der demonstrativ zur Schau gestellte Vinyl-Fetischismus vervollständigt das Bild. Kann man bei Nick Waterhouse nicht sogar 7“-Single-Pucks mit seinen Initialen kaufen? Limitiert und damit künstlich mit der Aura des Unikats versehen? Posen, Codes, Rollenspiele, das ist es, was nicht nur diese Art von Pop zu einem wesentlichen Teil überhaupt ausmacht. Dagegen ist ja auch gar nichts einzuwenden. Das Paradoxe daran ist nur, dass durch den Bezug auf die „Originale“ so etwas wie Authentizität und zeitlose Qualität vorgetäuscht wird, oder zumindest dem Konsumenten die Möglichkeit gegeben wird, sie hineinzuinterpretieren. Vielleicht färbt ja ein bisschen was davon sogar auf einen selbst ab? Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Da ist überhaupt nichts authentisch. Wobei ich bei Pop ja gar nicht mal Authentizität und Zeitlosigkeit einfordern würde. Pop ist doch viel mehr die Kunst der geschickt gestalteten Oberfläche und gibt jedem die Chance auf 15 Minuten Ruhm. Dagegen ist nichts zu sagen.

Ich habe übrigens nichts gegen KD&L und NW. Das ist doch prima Pop!

Da fällt mir ein: „Eighties pop music looks authentically dated . .. therefore it is indeed authentically. I think it’s quite funny that pop, by not claiming to be authentic, is so much more authentic“ Gesagt hat das Neil Tennant, die eine Hälfte der Pet Shop Boys. Und der muss es wissen.

In den achtziger Jahren schien dann postmodernes Denken geeignet, Popmusik zu erklären. Jetzt gab es eingestandene Revivals, ausgestellte Bezugnahmen auf frühere Zustände. Man hatte begriffen, dass der Pop-Moment aus zwei Teilen bestand und wollte nun schon gezielt beides selbst praktizieren: das Material für die Fetischisierungen liefern und seinerseits altes Material seiner vervollständigenden Zweitrezeption zuführen. Weite Bereiche der Soulmusik der sechziger Jahre, später auch des US-Garagen-Rock der sechziger Jahre wurden in den achtziger Jahre erst verstanden, klassifiziert, archiviert und – vor allem – reproduziert.
Die Kunst besteht darin, Erregungsmaterial zu sein. (Diedrich Diedrichsen)

DD bezieht sich hier auf eine Ära der späten 70er frühen 80er Jahre, in denen vor allem in GB viele Bands aus dem Boden schossen, die sich mehr oder weniger auf Vorbilder aus der Vergangenheit bezogen, diese zitierten, imitierten oder ironisch mit deren Stilmitteln spielten: Dexys Midnight Runners schwelgten im Celtic Soul von Van Morrison, Heaven 17, Culture Club und andere bedienten sich bei Motown, The Associates und Japan konnten und wollten ihre Verehrung für David Bowie bzw. Roxy Music nicht leugnen, Soft Cells erster Hit war ein Cover eines Northern Soul-Stückes und The Stray Cats wirkten wie durch einen timetunnel geschleuste Teddyboys. Selbst der hier im Forum so verehrte Paul Weller wechselte auf den Alben von Style Council von einem Stück zum anderen den Stil, von Bossa Nova bis zum Streichquartet. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Dabei hatte man noch 1977 behauptet, dass alle Popmusik aus der Zeit davor auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Eigentlich wundert es nicht, dass eine Diskussion über angebliche Retromania losgetreten wird. Es wundert nur, dass das erst jetzt passiert. Aber vielleicht war das damals bloß nicht so offensichtlich zu erkennen: Anfang der 80er wusste man als um-die-20-jähriger nicht, woher Dexys JACKIE WILSON SAID kam und wenn man sich nicht auf den Weg in einen Plattenladen machte und dort mit viel Glück eine ganz bestimmte Platte von Van Morrison erwarb, erfuhr man es auch nicht so schnell. Heute kann man sich Gloria Jones‘ TAINTED LOVE im web anhören, damals wusste kaum jemand, dass Soft Cells Hit eine Coverversion davon war.

Wie soll man diese Lust am Zitieren und an Bezügen auf Überliefertes nennen? Eine Art Erinnerungskultur, die Klänge, Bilder und Images aus der Vergangenheit gezielt einsetzt um in der Gegenwart den Rezipienten in Erregung zu versetzen? Motown, Van Morrison, Bowie und Roxy Music, Bossa Nova und R’n’R rufen Erinnerungen hervor, sind mit Bedeutungen, Konnotationen und Bewertungen besetzt, die beim Hörer etwas auslösen – je nachdem über welchen eigenen Erfahrungsschatz er selbst verfügt.

Auch Pop braucht gemeinsam gemachte Erfahrungen und Erinnerungen, die Bedeutung und Identität stiften. Dabei geht es auch um Wiedererkennbarkeit von Stilmitteln, um Verweise und Zitate deren Zusammenhang man kennt und die man einzuordnen und zu bewerten weiß. Erst durch den Verweis auf etwas Bekanntes gewinnt Pop überhaupt Sinn. So verstehe ich DD hier. Es ist überhaupt keine Frage, ob Pop sich nicht immer schon in einem Referenzsystem von Überliefertem aus Fakten und Legenden bewegte. Die Frage ist eher, auf welchem Niveau das geschieht, mit welchem Kenntnisreichtum und welcher Raffinesse und ob und wie das vom Hörer auch wahrgenommen wird.

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)