Re: Retromania | ist Pop tot?

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tolomoquinkolom

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Kultur des Überlebens und des Durchwurschtelns.

David Mackenzie zeigt in seinem Film wie Überleben funktioniert. In PERFECT SENSE verlieren die Menschen nach und nach all ihre Sinne. Trotzdem geht ihr Leben immer irgendwie weiter. Können sie nicht mehr riechen, würzen sie ihr Essen um ein Vielfaches. Können sie nicht mehr hören, pressen sie ihre Ohren dicht an die Musikboxen. Vielleicht schmecken sie ja doch noch etwas, vielleicht fühlen sie wenigstens, wie die Vibrationen der Musik den eigenen Körper treffen. Gegen Ende verlieren sie dann ihr Augenlicht, während sie aufeinander zugehen. Sie schaffen es gerade noch, sich aneinander festzuhalten. Eine Stimme aus dem Off sagt: Wenn sie jetzt jemand sehen würde, sähen sie aus wie ein normales Liebespaar. Sie wissen alles, was sie wissen müssen – selbstvergessen gegenüber der Welt um sie herum. Nur so geht das Leben weiter. Im Überlebensmodus ist die Welt um uns herum nur noch ein Störfaktor. Selten hatte der Kampf ums Überleben einen so prominenten Platz in der Popkultur wie heute. Dabei geht es nur scheinbar immer ums Ganze: Im Grunde geht es immer nur darum, selbst irgendwie über die Runden zu kommen: die volle Dröhnung Nichts.

Der Popkritiker Martin Büsser hat das Phänomen des Überlebens in seinem Buch MUSIC IS MY BOYFRIEND einmal am Beispiel von Phil Collins erzählt. Dieser mache Musik, von der niemand sagen könne, wofür sie eigentlich steht – von Collins selbst einmal ganz zu schweigen. Seine Musik schwebe nun seit nunmehr dreißig Jahren überall ‘in the air’. Er ist der erste Mensch, dem es gelang, alleine über die Erzeugung von völliger Interesselosigkeit zum Milliardär zu werden. Überleben, egal wie, egal wofür – das Prinzip begleitet die Popkultur mit Phil Collins mindestens seit den 70er Jahren. Der Punk hatte sich mit seinem ‘No Future’ abzugrenzen versucht, gesagt: das hier ist kein Leben. Doch geblieben ist nicht Punk, sonder Phil.

Was hat das nun für Folgen? Wie sich diese Kultur des Überlebens und des Durchwurschtelns, die man aus allen sozialen Sphären kennt entwickelt hat, könnte man auch in dem Wandel von der Kulturindustrie zur Popkultur beschreiben. Beide Begriffe charakterisieren nie ein gesellschaftliches Subsystem, sondern immer die Gesellschaft als Ganzes. Kulturindustrie beschreibt den Versuch, die vormals nur einer Elite zugängliche Hochkultur in der aufgekommenen Massengesellschaft zu verankern. Da in der Massengesellschaft die Warenproduktion alle Lebensbereiche durchdringt, wird auch die Kultur zur Ware. Popkultur wäre demzufolge der Zustand, in dem die Ware selbst zur Kultur erhoben wird, Pop somit eine medial vermittelte Intensität, die im Leben einzulösen den Rezipienten bereits deshalb unmöglich erscheint, weil sie diese Intensität schlechthin nur noch als medial vermittelte kennen – so Büsser. Die Popkultur reproduziert die immer gleichen Versprechen nach Liebe und intensivem Erleben, weil uns in einer Welt, wo nur noch Bier und Küsse schmecken, nichts anderes bleibt, als entweder vom Verlust zu singen oder die Lust zu trommeln.

Warum ist die Suche nach verstörenden Momenten nun so schwer geworden? Zum einen, weil der so verstandenen Avantgarde seit geraumer Zeit eine Kategorie abhanden gekommen ist: die des Neuen. Der digitale Zugang zu den kulturellen Artefakten der Vergangenheit, stelle eine Form des Überflusses dar, die längst Krise geworden sei. Musik bestehe zu weiten Teilen nur noch aus Referenzen. Somit ist das per se verstörende Element des Neuen weggefallen. Popmusik und dessen Kritik befinden sich weitgehend in einem selbstreferentiellen Loop. Zum anderen haben sich die, die sich vom Mainstream abgrenzen wollen, in Nischen eingenistet, eigene Netzwerke, alternative Vertriebswege gefunden. Aber wer soll da noch den Überblick behalten? Und wie sollen die vielen Nischen eine Wirkung erzeugen?

[Sebastian Dörfler/Martin Büsser | aus: Überall, nur nicht hier]

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