Re: Retromania | ist Pop tot?

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Retromania | ist Pop tot? Re: Retromania | ist Pop tot?

#8682551  | PERMALINK

tolomoquinkolom

Registriert seit: 07.08.2008

Beiträge: 8,651

Testcard #21: Überleben, was nun? Ignorieren, rumjammern, konvertieren, positionieren?

Popkultur war lange Zeit Rebellion gegen alles Bürgerliche; lebte im und aus dem Überfluss. Junge schöne Menschen führten vor, dass das Leben intensiver, cooler, freier, glamouröser sein kann als der bürgerliche Trott. Wer dabei zu Tode kam, starb als jugendlicher Märtyrer im Dienste des Vitalismus, im Dienste des Exzesses, mit anschließender Apotheose. Live fast, die young. Wer dieses Ziel verfehlte, kaufte sich dann eben später doch eine Villa nebst Treppenaufgang für die Platinschallplatten. Eingebettet war diese Verheißung in ein gesamtgesellschaftliches Fortschrittsklima, das so selbstverständlich und stabil schien, dass es wahlweise ignoriert, kritisch hinterfragt oder utopisch überboten werden konnte. Und wenn es mit der Utopie dann doch nicht klappte, blieb als Trostpreis immer noch der Rückzug in den Bürgerstand, Beamtenjob, Familie und Haus.

Sicher war es früher nicht nur so. Und sicher ist es heute nicht nur anders. Doch dass sich das Klima seit dem Golden Age of Pop kulturell, sozial und ökonomisch grundlegend verändert hat, kann nur bestreiten, wer die Stones 2011 noch für die hipste Band der Welt hält. Eine heikle Frage, denn Teil der Geschäftsgrundlage von Pop war es, die Frage nach der eigenen Lebensgrundlage (das Schließlich-auch-von-irgendetwas-leben-müssen) immer als Nebenwiderspruch zu behandeln, die sich irgendwie von selber regelt: durch kommerziellen Erfolg, solidarische Netzwerke oder undergroundige Bedürfnislosigkeit. Und ist die aktuelle Konjunktur von Überlebens-Fragen nicht vielleicht nur die Bestätigung dafür, dass der allgemeine Sicherheitswahn nun auch Pop- und Subkulturen erreicht hat?

Der Wandel betrifft zunächst die popinterne Generationenlogik, wo sich anstelle des vermeintlich ewigen Kulturkampfs der jeweils neuesten Jungen Wilden gegen die jeweils neuesten Alten Fürze inzwischen eine schwammige Koexistenz von altersbestimmten wie alterslosen Role Models samt den zugehörigen, mehr oder weniger würdevollen Alterungs-, Überlebens- und auch Ablebensmodi ausgebreitet hat. Noch mehr verschoben haben sich allerdings die gesamtökonomischen Rahmenbedingungen: Scheint die laute Aufbruchsstimmung von einst doch über die Jahrzehnte, und im Lauf der Nullerjahre immer offener, einer leisen Abbruchsstimmung gewichen zu sein. Immer weniger ist von Überschreitungen und Fortschritt, immer mehr dagegen von Bestandswahrung und Überlebensstrategien die Rede. War Pop früher mit Arbeitsverweigerung, Lob der Faulheit oder zumindest der Geste des Nichtstuns verbunden, geriert sich der Popbetrieb mittlerweile als buntes Berufsfeld, bei dem prinzipiell jede und jeder mitmachen darf, kann, soll und zuguterletzt auch muss.

Aber mag solche Kritik, sofern sie nicht aus dem Glashaus saturierten Pop-Beamten- oder Ex-Revoluzzertums kommt, auch in Teilen berechtigt sein, sie ändert doch nichts am Befund, dass sich auf dem Feld der Pop- und Anti-Popkultur einst selbstverständliche Chancen, Erwerbsmöglichkeiten, Residuen, Lebensmodelle, Bezahlgepflogenheiten, Absicherungen und Ausstiegsoptionen auf eine Art verdünnt haben, die allen, die mehr und anderes wollen als Ackermann/Bohlen/Zuckerberg, die Frage nach der eigenen materiellen und ideellen Lebensgrundlage immer intensiver aufdrängt: Finanzielle und kulturelle Kapitalströme wurden umgeleitet, Konzern-Renditen maximiert, Verluste sozialisiert, Sozialleistungen einkassiert, reale Infrastrukturen und Produkte virtualisiert oder ins Unbezahlbare ideologisiert, neuer Content eingespart, vorhandener oben copyrightisiert und unten enteignet, vormals feste, tariflich bezahlte Stellen wegrationalisiert oder mit Praktikantinnen besetzt, Konzernrenditen weiter maximiert, umstrukturiert, flexibilisiert, outgesourced, reformiert, bolognisiert – und dabei immer tendenziell mehr Freiraum einkassiert als neu eröffnet.

Was tun? Vier Strategien:
– Ignorieren (was oft hilfreich und heroisch, aber auch naiv, verlogen oder kontraproduktiv sein kann).
– Rumjammern (was entgegen dem herrschenden Popdiskurs-Kasernenhof-Verdikt dagegen, durchaus hilft, aber nicht weiterführt; zumal die Lautstärke meist umgekehrt proportional zum Anlass ist).
– Konvertieren (also im Arschloch des Systems verschwinden, wobei die Frage ist: In welchem System eigentlich genau? Und zu welchem Preis? Wie tief? Wie endgültig? Wie totalitär?).
– Die ökonomischen Macht- und Feldverschiebungen möglichst nüchtern analysieren und möglichst unernüchterte Positionen dazu entwickeln, erproben und gegebenenfalls erkämpfen.

[Holger Adam, Roger Behrens, Wolfgang Brauneis, Jonas Engelmann, Frank Apunkt Schneider, Johannes Ullmaier, Christian Werthschulte, Chris Wilpert (Hrsg.) | aus: Überleben. Pop und Antipop in Zeiten des Weniger]

.

--