Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › Retromania | ist Pop tot? › Re: Retromania | ist Pop tot?
Warum ist heute so viel Gestern in der Popmusik und hat die Zukunft eine Chance?
Popmusik ist besessen von der eigenen Vergangenheit, diagnostiziert Simon Reynolds in RETROMANIA. Elektro-Oldschool, Blues- und Countryrock, sogar der einst abgrundtief verhasste Softrock der Siebziger und Achtziger gelten heute als der heiße Scheiß. Längst vergessene Bands tauchen wieder auf, und Bands wie Sonic Youth oder gerade Primal Scream bringen werkgetreu ihre klassischen Alben auf die Bühnen. Und ewig grüßt das Murmeltier. Dabei ist Reynolds weniger besorgt um das verstärkte Interesse für vergangene Bands und Genres an sich. Revivals und die leidenschaftliche Fixierung auf ausprobierte Spielarten gehören seit den Anfängen zum Pop. So beschreibt er Dixieland-Revivals der Fünfziger, den Bluesfanatismus der Stones und Beatles und die letztlich reaktionären Tendenzen des Punk, der gegen Pomp, Komplexität und die Verfeinerung des Siebzigerjahre-Rock wilden Krawall und drei Akkorde aus dem Do-It-Yourself-Baukasten setzte.
Der in New York lebende Brite analysierte bereits die Sex Pistols und die Ära des Postpunk (RIP IT UP AND START AGAIN). Mittlerweile beunruhigt ihn die schrumpfende Halbwertszeit der Vergangenheit. Im endlosen Recycling vermisst er die Haltung und Entschlossenheit, mit der früher Stile gegeneinander gesetzt wurden. Stattdessen erkennt er eine frei flottierende, dennoch sehnsüchtig rückwärtsgewandte Ironie, die ohne Kontext und Ziel mit den historischen und regionalen Sounds spielt und sie dabei entwertet. Jegliche Substanz geht dabei flöten. Natürlich hat das zunächst mit der digitalen Revolution zu tun. Mit der Explosion der Archive im Netz, dem endlosen Speicherplatz auf PC- und Sampler-Festplatten sowie dem unverstellten, von keiner Knappheit bedrohten, keiner Recherche geadelten Zugriff auf die Vergangenheit. Da muss die Zukunft irgendwann auf der Strecke bleiben.
Zu den Lichtblicken in der Retro-Schlaufe zählt Reynolds die Hauntologen des Ghostbox-Labels. Mit ihren alten TV-Doku- und Schulfilm-Soundtracks inszenieren diese keinen musikalischen Stil, sondern spielen ihre eigene Erinnerung nach. Dabei entsteht ein durchaus moderner Beat. Vampire Weekend oder Dirty Projectors dagegen platzen vor Referenzen an die Popgeschichte. Beide Strömungen wiederum benutzen keineswegs die unmittelbare Vergangenheit, wie etwa der Elektromix Lady Gagas. Die Hip-Hop- und Dub-Neuerungen in Grime und Dubstep gelten Reynolds als innovativ. Emo dagegen lehnt er als nur melodische Erweiterung von Punk ab. Den Sampler scheint er noch nicht ganz als Instrument zu akzeptieren. Dabei schritt Popmusik – mit dem Mikrofon Billie Holidays, den Studios von Beatles bis Lee Perry, dem Plattenspieler im Hip-Hop – immer auch durch den spielerischen bis dilettantischen Umgang mit Technologie voran. Umgekehrt kann man die Manie, mit der sich junge Musiker aus reiner Lust vorzugsweise der verdrängten Popkunst widmen, durchaus als widerständigen Reflex begreifen: Vielleicht wollen ja viele Kids gar keine Ahnung haben.
[Markus Schneider | aus: Retromania – das Ende vom Fortschritt]
.
--