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Pop-Schaum und iPod, Gegenwartsflüchter und andere Philosophen.
Es gibt Menschen, die sich komplett aus ihrer eigenen Zeit verabschiedet haben. Sie gehen in Bars, die aussehen wie die Kantine eines Filmraumschiffes der späten sechziger Jahre, haben eine mit orangefarbenen Leuchten vollgestopfte Wohnung, hören Bossa Nova und sehen insgesamt aus, als hätte man einen Pariser Geschäftsmann der sechziger auf einen drogensüchtigen Cowboy der siebziger Jahre geschraubt. Selten gab es eine Zeit, die so wenig mit sich selbst zu tun haben wollte: Erfolg haben vor allem Produkte, die sichtbar untergegangene Formen wiederbeleben. Genau genommen gibt es zwei Bewegungen: eine, die sich in den Weltraummodernismus der sechziger Jahre flüchtet, und eine, die sich eine nicht politisch, sondern rein ästhetisch verstandene neue Bürgerlichkeit wilhelminischer Art mit Klavierabend, Krawattenpflicht und Sandsteinfassaden zurückwünscht. Andererseits gibt es zurzeit viel mehr interessante Dinge, Haltungen und Formen, als man denkt. Man sieht sie nur schlecht, was am vielen Retro liegt, das den Blick so ermüdet, das man am Ende gar nicht mehr genau hinschauen mag.
Die Retrokultur ist erstmal ein Generationenproblem. Wer 2001 dreißig war, erkennt in seinem Geburtsjahr 1971 eine heile Welt ohne Arbeitslosigkeit, Aids und al-Qaida, in die er gern zurückkehrte; wer 1971 dreißig war, ist 1941 geboren und hat wenig Grund, sich in die Zustände des Jahres seiner Geburt zurückzuwünschen. Bei Retro handelt es sich dabei nicht bloß um ästhetische, sondern auch um ideologische Rückwärtsrollen; mit der Retroküche schleichen auch alte Rollenbilder ins Haus. Im Kokon aufgewärmter Kindheitsformen, berieselt von öden Liedern über das Jahr 1973 und dubiosen Biologismen, verabschiedet sich der Mensch der Nullerjahre aus dem Jetzt und seinen Chancen, verpasst sein Leben hier, aber das macht ihm nichts; das seiner Vorfahren gefällt ihm deutlich besser. Natürlich war Retrokultur wichtig – als Wiedervorlage von Ideen, die es lohnte, weiterzudenken. Was man heute Barock nennt, hatte ein knappes Jahrhundert Zeit, sich weiterzuentwickeln und auszudifferenzieren; die Moderne von Buckminster Fuller oder Verner Panton hatte nur wenige Jahre. Retro war auch ein Versuch, die Opfer immer kürzerer Epochenzyklen zu bergen – aber mittlerweile wurden die alten Teebeutelchen ein bisschen zu oft aufgegossen.
Wer auf aktuelle Möbelmessen geht, tritt in eine Welt, die aussieht wie die des Jahres 2001, das schon wie der Film 2001 – A SPACE ODYSSEY von 1967 aussehen wollte. Leider sehen all diese Dinge aus wie zu oft aufgewärmtes Essen: aufgedunsen, trocken, zusammengesackt. Gibt es überhaupt noch Dinge, die nicht retro sind? Und was wären Formen, die spürbar aus der Gegenwart stammen? Wenn es Filme gab, in die man einziehen mochte und die das Fühlen einer Generation prägten, lag das vor allem an der aus Musik, Blicken, Bauten und Dingen zusammengesetzten Stimmung, die in ihnen kristallisierte: das Paris von 1959 war nicht mehr dasselbe nach den Jeans, der Sonnenbrille, den Zigaretten und der Kurzhaarfrisur, die Jean Seberg in A BOUT DE SOUFFLE trägt. Aber: Wo findet man, wenn man es denn vermisst, das Gefühl von Gegenwärtigkeit heute? Vielleicht im Moment mehr in der Architektur. Vor allem hier wird grundlegend neu sortiert, was öffentlich und was privat ist, und das ästhetische Experiment ist auch ein politischer Akt: Außen und innen, Wohnen und Draußen-Sein verhalten sich in diesen Experimentalwelten ganz anders als noch vor kurzem – und fühlen sich dank neuer Materialien auch anders an.
Wenn es darum geht, welche Materialien die Gegenwart beschäftigen, dann ist es interessant, dass Philosophen und Ingenieure in den letzten Jahren unabhängig voneinander am gleichen Material arbeiteten, nämlich an Schaum. Zum Beispiel Peter Sloterdijks ‘Schäume’ – so der Untertitel eines Bandes seiner Sphärentrilogie: Die Gesellschaft sei wie Schaum organisiert, die Menschen ko-isolierte Existenzen, einzelne zelluläre, fragile Weltblasen, die sich über unterschiedliche Medien – Architektur, Fernsehen, Internet, Konsum – berühren, manchmal auch platzen und strukturell zu Schaum verdichten. Konkretere Schaumdeutung betreibt der Ingenieur Werner Sobek und fragt: Könnte es sein, dass man in großporigen Schäumen wohnen kann? Man muss den Schaum nur verfestigen, dann hätte man eine Behausung, ein Habitat aus der Dose. Und Ryue Nishizawas Moriyama-Haus zerlegt in Tokio einen Bau in zehn Kuben. Jeder beherbergt einen Raum, die Flure dazwischen sind öffentliche Wege. Die Mitglieder der hier lebenden kleinen Gemeinschaft benutzen die öffentlicheren Räume gemeinsam und haben gleichzeitig Rückzugskuben, die Privatsphäre garantieren. Das Haus ist nicht nur ein mikrosoziales Experiment, sondern auch die Entsprechung des iPods in der Architektur: die klaren weißen Kuben zeigen, wie auf engstem Raum alles Nötige untergebracht werden kann.
[Niklas Maak | aus: Retro-Manie. Endlich Gegenwart]
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