Re: Retromania | ist Pop tot?

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tolomoquinkolom

Registriert seit: 07.08.2008

Beiträge: 8,651

Herr RossiAn dieser Stelle wird es schon fragwürdig, denn wann waren die „Produktlebenszyklen“ je so kurz wie in den 60s, die doch immer die Referenz für Pop-Innovationen sind? Damals wurden Veröffentlichungen mit einer Geschwindigkeit herausgebracht, als ob es kein morgen gäbe.

Über den Unterschied dieser jeweiligen Geschwindigkeiten bin ich mir nicht sicher, würde aber behaupten, dass zwischen den Sechzigern und heute ganz allgemein eine gesellschaftliche Beschleunigung stattgefunden hat (und weiter stattfindet). Es war seinerzeit wohl zumindest ein vollkommen anders strukturiertes Industrie-Management und Pop-Business. Und es gibt einen weiteren Unterschied: in den Sechzigern haben sich Veröffentlichungen die Aufmerksamkeit bzw. ihren Impact nicht mit einem Clip-Overkill auf diversen medialen Plattformen teilen müssen und ‘Augenmerk’ lag da auch noch auf gehörter Musik und nicht hauptsächlich auf gesehener Clip-Ästhetik, global chicness und visuell unterstützten Verkaufsstrategien.

In der ganzen „Retromania“-Debatte werden ja überhaupt verschiedene Dinge vermengt: Das konservative Kaufverhalten eines Teils der Rezipienten, wie eben beschrieben, hat meiner Ansicht nach keine Aussage über die Vitalität der aktuellen Musikszene. Sie ist da, sie ist vital, sie klingt anders als vor 10, 20 usw. Jahren. Diese Jammerarien über den angeblichen kreativen Stillstand kann ich überhaupt nicht teilen.

Wo machst du im Zusammenhang mit dieser Vitalität der Musikszene die Vorwärtsentwicklung von Popkultur/Popmusik aus? Würdest du das Adele-Album 21, das 2011 weltweit zum meistgekauften Album wurde, für eine Innovation halten? Worin bestünde diese? Womit ließe sich der immense Erfolg bei Käufermassen (auch jenseits von ‘normalen’ Popmusik-Konsumenten) einer derart rückwärtsbezogenen Musik begründen und eine Verbindung zu einem inhaltlichen Gegenwartsbezug knüpfen (von Songtexten ganz zu schweigen)?

Klingt toll, aber hier geht es doch wieder um Rezipienten und nicht um die Künstler. Du vermischst das ständig.

Mit Absicht. In der heutigen Zeit kann man das gar nicht mehr trennen. Zuschauer und Konsumenten empfinden sich heutzutage – nach meiner Meinung – ebenso als Pop (Love-Parade, TV-Superstar-Suche, Eurovisions-Contest, Konzerte, Events), wie entsprechende Acts. Oft tritt dabei sogar der rein musikalische Aspekt in den Hintergrund. Popkultur und Popkult feiern ein Eigenleben. Du hast es ja an anderer Stelle selbst schon mal geschrieben: Auftritte von Popkünstlern haben längst nicht mehr ausschließlich nur einen musikalischen Charakter. Das Vermischen von Künstlern und Rezipienten scheint mir daher legitim.

Alles richtig, darum ging es mir aber nicht bei dem Kaiser-Zitat, sondern auschließlich um seine Ausführungen dazu, dass klassische bzw. E-Musik eine differenzierte Kunstsprache ist, die nur der kreativ verwenden und weiterentwickeln kann, der ihre Geschichte kennt. Ich meine, wenn man diese Erkenntnis auf Pop-Musik bezieht, dann verliert diese ganze „Retro“-Thematik ihren vermeintlichen Schrecken, zumindest was die aktiven Künstler angeht.

Heutzutage bietet so ziemlich jede neue Band oder neue Künstler ellenlange und bunte Listen der eigenen Einflüsse, die zeigen, dass sie nicht „unbeleckt“ ans Werk gehen, sondern in dem Wissen, dass andere vor ihnen auch schon Musik gemacht haben und sie diese Musik geprägt hat. Das wussten die viel gerühmten Innovatoren der 60s aber schon genauso gut.

Ich sehe momentan eigentlich gar keinen Schrecken an retro – höchstens eine merkwürdige Entwicklung, die offensichtlich munter voranschreitet (Kitty, Daisy & Lewis, Waterhouse, Adele, Lamar, Bugg), aber nur wenige wirklich Interesse an der Thematik zeigen (am wenigsten Konsumenten, am meisten Kulturhistoriker und Poptheoretiker).

DJs oder Remixer müssen beim Mischen oder beim Scratchen nicht unbedingt auch musikhistorische Zusammenhänge oder Auswirkungen ihres Ausgangsmaterials kennen um damit etwas kreativ hervorzubringen. Ich bin mir daher nicht sicher, ob Kaisers Kunstsprache-Ansatz allgemein genommen hier zutrifft.
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