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Herr RossiDie Meisterin der Suggestivfragen am Werk.:) Die Fragen setzen ja voraus, dass die ihnen zugrunde liegende These, derzufolge Pop sich nur noch in „Retro-Zyklen“ bewegt, nicht weiter diskutiert werden muss. Da du aber ein echtes Interesse an aktueller Musik hast, kannst Du dieser These denn zustimmen? Ich nicht.
Pop 2012 klingt anders als Pop 2002, als Pop 1992, als Pop 1982 usw. usw. … Je älter wir als Rezipienten werden, je länger wir das Geschehen verfolgen, desto mehr hören wir natürlich, welche Einflüsse und Vorbilder verarbeitet werden. Auch jüngere Hörer haben im Internetzeitalter viel leichteren Zugriff auf die Archive der Popmusik, so wie es vor zehn Jahren LCD Soundsystem in Losing My Edge beschrieben. Popmusiker haben dagegen immer schon aus dem Fundus geschöpft und sehr bewusst Einflüsse verarbeitet. Und daran ist überhaupt nichts verwerflich, im Gegenteil: Das gehört zum Wesen aller Künste.
Was die These ‘Pop bewegt sich nur noch in Retro-Zyklen’ betrifft, so würde ich an ihrem Ausschließlichkeitsanspruch vorsorglich Zweifel anmelden. Pop in seiner Gesamtheit tut dies sicher nicht; mehr oder weniger große Nischen sind stets zu finden. Und Zitat-Pop (den es schon lange gibt) würde ich nicht als retro bezeichnen. Hier greifen Künstler auf Vergangenheit zurück um sie verwandelt für sich um- und einzusetzen, nicht um eine bloße Kopie herzustellen.
Dass man sich in Begrifflichkeiten (Hommage, Zitat, Imitation, Fake, Parodie) auch trefflich verheddern kann, zeigt z.B. der Pop-Song MAN ON THE MOON von R.E.M. sehr schön. Darin scheint Stipe wie Elvis zu singen, tatsächlich handelt es sich allerdings um eine Hommage an eine Elvis-Parodie von Andy Kaufman, der wiederum nicht Presley parodiert, sondern dessen Imitatoren. Die Hommage an die Parodie einer Imitation als Pop also. Wenn überhaupt und dann welcher Teil wäre hier retro?
Entscheidend in dieser ganzen Betrachtung scheint mir vor allem jene entstandene, fast unbegrenzte Zugriffsmöglichkeit auf fast die gesamte Popkultur in digitalen Netzwerken zu sein und als zeitlicher Wende- und Fluchtpunkt in Retro-Welten der Wechsel ins neue Jahrtausend. In diesem Zusammenhang halte ich eine Feststellung des Billboard-Magazins für aufschlussreich, in der das Verhalten von Konsumenten offenkundig wird: am Ende der Noughties haben etwa 64% der Online-Käufer auf den Katalog zugegriffen, auf Musik also, die seinerzeit älter als anderthalb Jahre war. Zehn Jahre zuvor war dieses prozentuale Verhältnis noch umgekehrt: zwei Drittel aktuelle Musik, ein Drittel Katalog.
iPod scheint zum Symbol eines rasenden Stillstands zu werden. Viel Bewegung bzw. Aktionismus, aber kein (echter) Fortschritt, weil das ganze Archiv zur potentiellen Playlist wird, um Besonderheiten bereinigt und stimmungsoptimiert. In Zeiten wachsender globaler Unsicherheiten beschwört man offensichtlich viel lieber die Vergangenheit herauf, als sich mit der Gegenwart oder gar der Zukunft zu befassen.
Der schwer zu leugnende dekorative Trend zur Repetition in der aktuellen Kultur ist neben der Popmusik auch in der Filmkunst deutlich sichtbar, die im erweiterten Sinn mittlerweile ebenfalls zur Popkultur zählt. Die Innovationen der Studios und Sender besteht inzwischen zu einem erheblichen Teil aus retro; Wiederholung und Wiederholung der Wiederholung (erfolgreiche Filme bzw. Serien werden einfach immer wieder neu gedreht, andere popkulturelle Bereiche erfolgreich vereinnahmt, die sich z.B. in Comic-Verfilmungen manifestieren).
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