Re: Retromania | ist Pop tot?

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tolomoquinkolom

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Fundsachen zu einem möglichen Diskurs:

Der Retro-Begriff leitet sich aus dem Modediskurs ab, der 1965 zum ersten Mal eine Abkehr von allgegenwärtigen Innovationsbestrebungen und eine Hinwendung zur Reinterpretation historischer Stile erkennt. Dass Vintage, Retro und Nostalgie heute so große Bedeutung haben, erklärt sich durch den technischen Fortschritt und den Niedergang der Ökonomie. Es ist eine Möglichkeit, sich den immer kürzeren Produktlebenszyklen und der beängstigenden Gegenwart zu entziehen, indem man alle Zeitlichkeit ablehnt. Der Nostalgiker entwirft seine Identität in einer vergangenen Epoche, um sich dem flüchtigen Jetzt zu widersetzen und um überhaupt etwas habhaft werden zu können. Demnach ist der Pop von heute nicht mehr als offensiver Kommentar zum Weltgeschehen zu lesen, sondern nur noch in seiner passiven Verweigerungshaltung zu verstehen. In seinen Hochzeiten war Pop immer Jetztbezogen gewesen (das now als Urmoment des Pop), das exzessive retromanische Erinnern, also das Herbeizitieren längst vergangener Musikstile, erweist sich hingegen als deutliche Alterserscheinung.

[Simon Reynolds | aus: Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann]

Das Gesicht des Pop hat sich gewandelt. Doch was ist im Kern geblieben? Ob in Politik, Wirtschaft oder Sport, inzwischen folgt alles den Regeln der Popkultur: Schnelles Generieren von Aufmerksamkeit, die Sehnsucht nach Spektakulärem, unmittelbare Vergänglichkeit, Starkult und sanfte Ironie prägen das Bild. Und seitdem eigentlich alles Pop ist, wird er sogar als wissenschaftliche Disziplin eingefordert, weil er doch so viel aussagt über die Gegenwartskultur. Im September 2012 ist die erste Ausgabe von POP – KULTUR & KRITIK erschienen (die zweite folgt im Frühjahr 2013), eine Zeitschrift mit Essays und Beiträgen zum Thema. 50 Jahre nach der ersten Beatles-Single wird Pop ernster genommen als je zuvor. Gleichzeitig heißt es aber auch, Pop sei tot. Mit dem allmählichem Untergang der Musikindustrie, mit der Kommerzialisierung und damit dem Verschwinden des einst Subversiven, kurz: mit dem Verlust der revolutionären Unschuld scheint Pop seine besten Zeiten lange hinter sich zu haben.

[Roderich Fabian, Thomas Hecken, Nadja Geer | aus: Alles ist Pop/Pop ist tot]

Die Popmusik befindet sich in der Sackgasse, gefangen in der Endlosschleife einer Rückwärtsmanie. Die Industrie verstopft uns mit Best-of- und Essential-Reihen alter Künstler, permanent gibt es Wiedervereinigungen von Uralt-Bands, ein Revival reiht sich an das nächste. Die Ökonomie der Musikindustrie favorisiert gerade eher die Vergangenheit als die Zukunft. Plattenfirmen adressieren ihr Angebot an den kaufkräftigen 30-Plus-Menschen und seine Vorlieben von gestern. In der riesigen iTunes-Bibiliothek muss sich jeder neue Song erst mal gegen die Beatles und 20.000 andere Klassiker durchsetzen. Das ist nicht ganz einfach. Neu ist die Retromania natürlich nicht. Die Ramones waren schon eine 320-PS-Version von Buddy Holly, die Rolling Stones haben sich nicht nur den Namen von Muddy Waters ausgeliehen, die Northern Soul-Gemeinde der 70er hat sich im Soul der 60er gebadet und HipHop, einst die neueste Musik der Welt, hatte das Geschichtsbewusstsein schon immer im Sampler.

[Ralf Summer, Simon Reynolds | aus: Return to Sender. Retromania – die Sucht der Pop-Kultur nach ihrer eigenen Vergangenheit]

Lana Del Rey ist ein gutes Beispiel. Über soziale Netzwerke wie YouTube ist die Sängerin zu einem Star geworden. Sie sieht aus wie eine Hollywood-Diva im Look des White Trash, singt von den verlorenen Träumen Amerikas und setzt ihre Musikvideos aus grobkörnigen Archivsequenzen zusammen. Ihr Konzept ist nicht trotz aller Nostalgie zeitgemäß, sondern gerade wegen ihr. In keiner Epoche der Popgeschichtsschreibung war die Rückbesinnung auf schon mal Dagewesenes so gegenwärtig wie in den vergangenen zehn Jahren. Vor Lana del Rey waren Kitty, Daisy & Lewis mit ihrem originalgetreuen Rock ‘n’ Roll, Hurts mit ihrem kühlen 80er-Jahre-Synthiepop, Adele mit ihrem 60er-Jahre-Soul, The xx mit ihrem Post-Punk-Appeal. Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen.

[Rabea Weihser | aus: Pop am Rande der Erschöpfung]

Als die Nullerjahre zu Ende gingen, herrschte eine gewisse Ratlosigkeit, als es darum ging, das Jahrzehnt auf einen popmusikalischen Begriff zu bringen. Man las noch einmal über den Absatzeinbruch der Tonträgerindustrie, wurde an die Erfindung des iPods erinnert, protokolliert wurden das Revival von Post-Punk-Gitarrenbands am Anfang und die Rückkehr von Soul am Ende der Dekade. Aber man las kaum Grundlegendes darüber, was es bedeutet, wenn die Vergangenheit die Zukunft einholt. Der Retro-Megatrend bliebt kulturkritisch unterbelichtet. Als hätte man die Abreise der Gegenwart aus dem Popgebiet übersehen.

[Tobi Müller | aus: Die Zukunft ist draußen]

Pop erschöpft sich selbst in seiner manischen Flucht in die Archive. Die Digitalisierung und Archivierung aller musikalischen Hervorbringungen, der einfache Zugang zu unendlichen Kulturdatenbanken wie YouTube oder dem iTunes Store haben nicht zu einer ästhetischen Progression geführt, sondern zu einem Stillstand der musikalischen Originalität, zu einer Gegenwart ohne Grenzen – dem endless digital now. An die Stelle der kreativen Megabands sind technologische Megamarken getreten. Nicht die Musiker, sondern Napster, Apple, Limewire, Last.fm, MySpace und andere haben das vergangene Jahrzehnt geprägt. Die heutige Popbranche hat sich in der Verwertung der Vergangenheit eingerichtet. Angefangen bei Rockmuseen, über Wiedervereinigungen längst zersplitterter Bands, ihre Auferstehung in Tribute-Kapellen, die Wiederveröffentlichungen alter Bestseller-Alben, die verklärende Nostalgie der Popdokumentationen im TV, der auflebende Vinyl-Fetischismus, die unzähligen Cover-Versionen in den Charts, die Sampling- und Mash-Up-Kultur bis hin zu musikalischen Genres, die uns zunächst als neu erscheinen, sich aber schnell als historisierend entlarven.

[Simon Reynolds | aus: Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann]

Gegenwartspop hat sich in der Retro-Schleife verfangen. Musiker wie Adele oder The Strokes stellen Stile, Sounds und Bilder der unmittelbaren Vergangenheit nach, anstatt im Rückwärtsgang durch die Popgeschichte genügend Momentum für den Sprung nach vorn zu finden. Und Identität löst sich im cloud self auf, Musiker werden zur mit Bewusstsein begabten Suchmaschine und die knapp 25 Jahre alte Praxis des Remixens, die durch moderne Studiotechnologie ermöglicht wurde, wird retroaktiv zum Wesen von Kunst deklariert. Alles ist Plagiat, alles ist Remix. Fragen nach Originalität oder Innovation müssen so als zwangsläufig kunstfremd erscheinen. Zeitgenössisch ist eine solche Position dagegen nicht.

[Christian Werthschulte | aus: Rückwärts aus der Geschichte]

Der Pop ist tot – es lebe die Popgeschichte, so könnte eine voreilige Antwort auf die Frage lauten, ob der Pop nicht mehr Aufmerksamkeit als Gegenstand der zeithistorischen Forschung verdient hätte. Kaum hat man dieses Motto aus dem Feuilleton ausgesprochen, wird jedoch klar, dass es ein bequemes Klischee bedient. Die Popkultur ist bereits des Öfteren für tot erklärt worden. Als Indiz für den behaupteten Verfall dient dabei die Beobachtung, dass sich Pop nicht mehr als eine sichtbare Gegenwartskultur identifizieren lasse, die im sprichwörtlichen Sinne die Massen bewege. Beklagt werden die durch das Internet zusätzlich ausdifferenzierten und fragmentierten Öffentlichkeiten und Szenen, die sich nicht mehr wie in den guten alten Tagen zu politisch relevanten Generationsrevolten aufschaukeln. Hinzu kommt dann noch das Staunen über die ewigen Retrowellen, jene von Simon Reynolds sezierte Besessenheit der Popkultur von ihrer eigenen Geschichte: We live in a Pop age gone loco for retro and crazy for commemoration.

Da hat man noch nicht zu Ende gedacht, wie man die 14 CDs der Original Recording Remastered Edition von Pink Floyd im Discovery Boxset mit der eigenen begrenzten Lebenszeit in Einklang bringt, da folgen schon Nirvana mit der künstlich aufgeblähten Nevermind, Brian Wilson mit auch noch dem letzten Studiorauschen der Sessions seines grandios gescheiterten Smile-Projekts, die ewigen Weltverbesserer von U2 mit 20 Jahren Achtung Baby oder The Who mit 40 Jahren Quadrophenia: Man kann getrost den ausgewaschenen Fishtail Parka mit dem Target Patch aus dem Schrank holen. Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Auch im aktuellen Popgeschäft dominieren Souldiven im Retrostyle und vergangenheitsverliebte Stilsymbiosen wie etwa jüngst Lana Del Rey, die gekonnt ihre Reminiszenzen an Nancy Sinatra und den Look von Hollywood mit einer Portion Gangsta Rap mixt.

Was schon für die Nachkriegszeit und die umbruchslangen 1960er-Jahre gilt, trifft erst recht zu, wenn die Wanderdüne Zeitgeschichte nun die 1970er, 1980er und 1990er Jahre erreicht: Ohne Popkultur geht da gar nichts mehr. Es gibt inzwischen keine Tabus bei den Themen, und das Verständnis von Pop hat sich deutlich geweitet. Die Zeiten sind gottlob vorbei, wo bestenfalls die Abenteuergeschichten von Rock ‘n’ Roll und politischer Revolte oder der hochkulturfähige Jazz die Weihen von ernstzunehmenden Themen erfuhren. Plattensammeln und Fanwissen hätten ein ähnliches Prestige erlangt wie vormals die Klavierstunde oder der Museumsbesuch. Am Pop könne man den kulturellen Wandel ablesen – etwa die Liberalisierung und Nivellierung traditioneller Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Schichten.

Die Historiker können dieses Geschehen mit Gelassenheit beobachten. Dass die Popkultur ihre eigene Geschichte in immer höheren Dosen inhaliert, erleichtert ihnen vielleicht das Geschäft. Die Vermarktung der Vergangenheit des Pop bringt neben viel Erinnerungskitsch manch interessante Quelle hervor. Sicher ist die Frage, ob die Ära der Popkultur zu Ende geht, nicht völlig abwegig. Die Digitalisierung scheint zumindest einen Bruch zu markieren, der alte Modelle der Distribution radikal in Frage stellt und den Tod der Musikindustrie in ihrer bisherigen Form in den Bereich des Wahrscheinlichen rückt.

[Jürgen Danyel | aus: PopHistory (Blog). Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären]

Beim Angriff der Gegenwart auf die übrigen Zeiten, der mit einem Bündnis der übrigen Zeiten gegen die Gegenwart beantwortet wurde, handelt es sich um einen Rückbau der Kultur im 21. Jahrhundert. Musik und auch Film haben aus Furcht vor dem eigenen Tod bzw. Verschwinden die Flucht nach vorne in die Retro-Zeitschleife, in die eigene Vergangenheit angetreten und werden damit zur reinen Recycling-Veranstaltung, deren Impulse aus Macht, Profit und Bequemlichkeit bestehen. Immer mehr neue technologische Mittel werden aufgewandt, um immer mehr Dinge zu bewegen, die ohnehin die alten sind. Je offener das System, desto enger die Zeitschlaufen. Und wo wenig Fortschritt ist, desto dringlicher ist der Druck auf Introspektion. Popkultur ist inzwischen nichts anderes als die Kunst, sich im Kreis zu drehen, ohne sich zu langweilen und ohne dabei umzufallen.

[Georg Seeßlen | aus: Heute eine Beleidigung, morgen ein Kompliment]

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