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Macht, Gunst, Anlage, Reichtum, Würde, Adel, Gewalt, Geschick, Fähigkeit, Tugend, Laster, Schwäche, Stumpfsinn, Armut, Ohnmacht, bürgerliche, gemeine Herkunft gehen bei der Gesamtheit der Menschen eine Unzahl von Verbindungen ein und bilden, tausendfältig vermischt und in jedem einzelnen gegenseitig abgewogen, die mancherlei Stände und verschiedenen Lebensbedingungen.
Die Menschen, die genau Stärke und Schwäche voneinander kennen, verhalten sich auch gegenseitig so, wie sie es glauben tun zu sollen, merken, wer ihnen gleich ist, spüren die Überlegenheit, die manche über sie und die sie selbst wieder über andere haben; und so entstehen unter ihnen Vertraulichkeit, oder Achtung und Ehrerbietung, oder Hochmut und Verachtung.
Dies ist der Grund, warum man auf öffentlichen Plätzen, wo die Leute zusammenkommen, alle Augenblicke einen trifft, den man anzureden oder zu grüßen sucht und zugleich einen anderen, den man nicht zu kennen vorgibt und unter allen Umständen von sich fernzuhalten trachtet; daß man sich durch den einen geehrt fühlt und über den anderen errötet, ja daß der gleiche, der euch Ehre brächte und den ihr zurückhalten wollt, euch als lästig empfindet und stehen lässt, und daß er selber, der sich seiner Bekannten schämt oder auf sie herabsieht, von dritten gemieden oder verachtet wird; häufig mißachten wir auch, wer uns mißachtet.
Welch erbärmliches Schauspiel! Da man aber in diesem seltsamen Handel auf der einen Seite verliert, was man auf der anderen zu gewinnen meint, liefe es nicht auf dasselbe hinaus, wenn man allem Stolz und allem Hochmut entsagte, der uns schwachen Menschen so schlecht ansteht, und sich dazu vergliche, einander mit wechselseitiger Güte zu behandeln, was uns neben dem Vorteil, niemals verletzt zu werden, das ebenbürtige Gut gewährte, niemanden zu kränken?
La Bruyère, Die Charaktere, 1688
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