Re: Suicide – Alan Vega + Martin Rev

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Hoffentlich gehe ich hier niemanden mit meinem Gerede von Oberfläche – Hallraum – Referenzhölle auf die Nerven. Ich möchte die Musik von Suicide nicht überinterpretieren. Aber vieles von dem, was ich hier anklingen lasse, geistert irgendwie durch Biografie und Werk von Alan Vega und Martin Rev. Einiges erwähnen sie explizit, anderes nicht. Einiges ist offensichtlich, anders kann man nachlesen, wieder anderes kann man sich zumindest zusammenreimen.

Diese eigentlich unwahrscheinliche Begegnung von Bruce Springsteen und Suicide ergibt für mich erst Sinn, wenn man die Parallelen in der Musik dieser scheinbar völlig unterschiedlichen Künstler betrachtet. Aber man muss erst mal etwas danach stöbern. Dann wird dieses kleine Stück DREAM BABY DREAM auf einmal mit Sinn und Gefühl aufgeladen.

Aber weiter: Ich weiß nicht, warum Alan Vega und Martin Rev das Projekt Suicide nach der Veröffentlichung ihres zweiten Albums vorläufig auf Eis legten. Vermutlich blieb der kommerzelle Erfolg hinter den Erwartungen zurück und es lohnte sich nicht so recht, mit Suicide weiterzumachen. Sie hörten zwar nicht ganz mit Suicide auf, sondern traten noch sporadisch gemeinsam auf. Aber neue Aufnahmen gibt es zunächst nicht mehr.

Stattdessen nimmt Alan Vega 1980 sein erstes Soloalbum auf.

Alan Vega (1981)

Alan Vega – vocals
Phil Hawks – guitar

Auf dem zweiten Suicide Album war Alan Vegas Leidenschaft für Rock’n’Roll nicht mehr so offensichtlich gewesen. Umso mehr kommt sie auf seinem Solo Debut zur Geltung: Alan Vega und Phil Hawks spielen hier eine auf Haut und Knochen heruntergestrippte Version von Rockabilly, als wären die Skelette von Elvis, Eddie Cochran und Gene Vincent aus ihren Gräbern gestiegen. Phil Hawks Gitarre wiederholt oft minutenlang das gleiche minimalistische Riff und Alan Vega legt darüber sein obercooles trademark Murmeln, Fauchen, Kreichen und Zischen, oft auch nur ein “Ah-huh-huh” oder ein eruptives Jauchzen und Stöhnen. Auf LOVE CRY und LONELY nöhlt und jammert er bloß noch herum. Dazu kommen Akzente von Perkussion, meist nur handclaps, finger snapping, ein gnadenlos monoton auf der Bassdrum durchgehaltenes Stampfen oder sogar nur eine tuckernde rhythm box. Das hat dann sogar etwas von Bluesaufnahmen der 40er und 50er, aber auch vom New Wave der frühen 80er. Archetypisch und modern, eiskalt und heiß zugleich. Hier und da sind auch noch ein Piano und ein Bass zu hören, ebenso wie die percussion jedoch uncredited. Wahrscheinlich hat Alan Vega das alleine im Studio zusammengebastelt.

Die besten Stücke sind JUKEBOX BABE, das in Frankreich ein Hit war, und FIREBALL das kurz for Ende zu einem großartigen Höhepunkt aufläuft. Mindestens JUKEBOX BABE ist ein Klassiker. Die Platte hat noch ein paar weitere Höhepunkte, wenn auch manche Stücke nicht so ganz mithalten können. Dennoch ein gutes Album, für Fans von Alan Vega unverzichtbar. Vielleicht ist sein Solo Debut sogar trotz seiner paar etwas lauen Passagen sowas wie der defining moment seiner Solo Arbeit.

Ich hatte weder Zeit noch Muße mich mit den lyrics zu beschäftigen, aber alleine schon Titel wie JUKEBOX BABE, KUNG FOO COWBOY oder BYE BYE BAYOU verweisen auf die goldenen Zeiten der amerikanischen Popkultur und gleichzeitig auf deren unheimliche Seiten. Auf JUKEBOX BABE kann ich die Zeilen “Jukebox Babe playin‘ Johnnie Ray” heraushören. Johnnie Ray: der legendäre Nabob of Sob, halbtauber Teenieschwarm der 50er, wahnsinnig erfolgreich, mehrfach wegen seiner Homosexulität verhaftet und am Ende an den Folgen seines Alkoholismus gestorben.

Die Platte ist leider vergriffen und nur noch gebraucht oder als Download erhältlich. Ein Jammer!

Hier ein grandios bescheuertes Video von JUKEBOX BABE mit einem – ja! – tollen Jukebox Babe und einem Alan Vega und Publikum, die gleichermaßen voneinander angeödet und frustriert sind.

http://www.youtube.com/watch?v=KPNO5f4yO_g&feature=related

Und spaßeshalber noch ein Video mit Johnnie Ray. Richtig gut wird es mit dem zweiten Stück FOOL ab 3:00.

http://www.youtube.com/watch?v=lIxl_ISz1Ag

Alan Vegas zweites Solo Album COLLISION DRIVE kenne ich nicht. Kann da jemand weiterhelfen?

PS.: Kleines Quiz: In welchem bekannten Stück eines anderen hemmungslosen Nostalgikers wird der Name Johnnie Ray auch noch erwähnt?

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)