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Hätte ich diesen Faden lieber mit “Suicide: Oberfläche – Hallraum – Referenzhölle” überschreiben sollen? Die Begriffe Elvis, Velvet Underground, The Stooges, tote Rockstars, JFK und Richard Nixon, Atombombe und New York City Blackout, ein paar Filme des New Hollywood und das CBGB, Studio 54 und Harlem in den 70ern hatte ich schon absichtlich fallen lassen und selbst die Mondlandung und den Vietnamkrieg habe ich nicht ausgelassen.
Referenzen über Referenzen, die mir in den Sinn kommen, wenn ich die ersten beiden Alben von Suicide höre. Als ich das Wort “Referenzhölle” googelte, stieß ich auf ein Buch, das oben genannten Titel trägt, wenngleich dieses Buch ein völlig anderes Thema als den Electro Punk verhandelt, über den wir hier reden. Und doch: Dieser vermeintlich triviale Elektro Punk, diese billig gemachte Musik, die nur geringe intstrumentale Fähigkeiten und keinerlei gesangliche Fähigkeiten im herkömmlichen Sinne erfordert und traditionelle Rock-Konventionen wie guitar, bass & drums und das Songformat glatt hinter sich lässt, scheint mir tief in einem Beziehungsgeflecht kultureller, sozialer und politischer Abhängigkeiten verstrickt zu sein. Auch das macht diese Musik so interessant.
Als Alan Vega und Martin Rev 1979 mit Ric Ocasek in den New Yorker Power Station Studios ihr zweites Album aufnehmen, arbeitet Bruce Springsteen im Nachbarstudio an seinem Album THE RIVER. Auf der einen Seite Bruce Springsteen: uramerikanischer Kumpelrocker, Anwalt des kleinen Mannes, der am liebsten jedem aufmunternd auf die Schulter klopfen möchte. Auf der anderen Seite Suicide: zwei Art School Punks und Bohemiens, denen nichts ferner liegt als sich mit Otto Normalverbraucher zu verbrüdern und die selbst ihrem eigenem Publikum schon fast programmatisch vor den Kopf stoßen. Was verbindet diese beiden Fraktionen?
Musikalisch scheinen Springsteen und Suicide nicht das geringste gemein zu haben. Aber doch gibt es einen gemeinsamen Bezugspunkt. Bruce Springsteen und Suicide haben ein gemeinsames Thema: “the distance between the American reality and the American dream.” Der Boss schaut mal kurz bei Suicide vorbei und ist schwer beeindruckt! Später nennt er FRANKIE TEARDROP „one of the most amazing records I think I ever heard“. Und tatsächlich könnte FRANKIE TEARDROP ein Charakter aus einem Bruce Springsteen-Song sein, jedoch eher aus einem späteren Song, denn zumindest bis BORN TO RUN sind seine Figuren ja meist von überbordender Euphorie erfüllt. Der Kater kommt erst später. Auf THE RIVER sieht es ja schon teils nicht mehr so rosig aus. Aber den Tiefpunkt errreicht Springsteen erst zwei Jahre später mit seiner depressiven Meditation über zerbrochene Träume auf NEBRASKA. Und hier ist dann auch der Einfluss von Suicide deutlich zu hören: STATE TROOPER ist eine bedrohliches Szenario kurz vor dem Knall, mit einem monotonen pattern – wenn auch auf der Gitarre gespielt und nicht auf dem Synthesizer – und vocals von Bruce Springsteen, die unverkennbar Alan Vegas unheimliches Murmeln und ausbruchhaftes Kreischen zum Vorbild haben. Das dürfte damals aber kaum jemand so wahrgenommen haben, denn Bruce Springsteen und Suicide hatten 1982 beim Publikum wohl kaum eine gemeinsame Schnittmenge.
Erst viele Jahre später gibt es dann bei Bruce Springsteen die nächste offensichtliche Referenz auf Suicide: Im Jahr 2005 spielt er auf den Konzerten seiner Tour als letztes Stück eine Coverversion von Suicides DREAM BABY DREAM, fast nur von sich selbst auf dem Harmonium begleitet. Und das ist eine der erstaunlichsten Cover Versionen, die es überhaupt gibt. Eher eine Interpretation, die diesem scheinbar so schlichten kleinen Stück, das aus gerade mal ein paar sich immer wiederholenden Tönen und Worten besteht, eine ganz andere Dimension verleiht.
dream baby dream
dream baby dream
dream baby, dream baby
dream baby, dream
forever
Bruce Springsteen macht daraus ein hymnisches Gebet. Überwältigend! Alan Vega wünscht sich später, dass diese Aufnahme auf seiner Beerdigung gespielt wird.
Suicides Original:
http://www.youtube.com/watch?v=qCRTCqgAkfg
Bruce Springsteens Cover:
http://www.youtube.com/watch?v=mJPloPHGbjc
Ein tolles mash up:
http://www.youtube.com/watch?v=zQMs2LyjKJQ&feature=related
Noch ein paar weitere Infos (und ein Download von DREAM BABY DREAM) zum Verhältnis von Suicide und dem Boss:
http://hardcorefornerds.blogspot.de/2008/10/bruce-springsteen-vs-suicide-dream-baby.html
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)