Re: Suicide – Alan Vega + Martin Rev

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friedrich

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Die Zeit nach der Veröffentlichung ihres Debuts sind Suicide u.a. als Support von Elvis Costello und The Clash auf Tour, was sie auch nach Europa führt. Die dortigen Auftritte stoßen beim Publikum offenbar auf sehr gemischte Resonanz: Der Auftritt am 16. Juni 1978 in Brüssel endet im Eklat und der Auftritt in Berlin ist manchem Forums-Kollegen ja auch nicht gerade in positiver Erinnerung. Sie sind aber zumindest im Geschäft und bekommen etwas Publicity. Ob sich das auch in klingender Münze auszahlt, darf jedoch bezweifelt werden.

Im Jahr 1979 nehmen Suicide ihr zweites Album auf, diesmal mit Ric Ocasek als Produzenten. Der ist Leader der damals in den USA enorm erfolgreichen New Wave / Pop Band The Cars. Ric Ocasek hatte Suicide – sehr zu deren eigenen Verwunderung – nach einem Gig in Boston backstage aufgesucht. Nachdem Suicide bei dem hippen New Yorker Label ZE Records, bei dem auch Kid Creole, Bill Laswells Material und James White veröffentlichen, unterzeichnet hatten, bietet Ric Ocasek sich als Produzent für das zweite Suicide Album an. Vielleicht war das so etwas wie eine glückliche Fügung, denn sowohl Suicide als auch The Cars haben ja den Mythos des Nachkriegs-Amerikas als Thema, wenngleich aus einer anderen Perspektive betrachtet. Auf jeden Fall ist zwischen dem Debut und dem eigenartigerweise ebenfalls schlicht “Suicide” benanntem zweiten Album eine deutliche Veränderung wahrzunehmen.

Suicide (1980)

Alan Vega: voice
Martin Rev: electronics

Das Cover von Suicides Debut war blutig gewesen und im Zusammenhang mit dem Namen des Duos provozierte das böse Assoziationen. Auch auf dem Cover von Suicide zweitem Album fließt Blut und lässt ebenfalls Übles ahnen. Dreht man das Cover um, kann aber Entwarnung gegeben werden, denn nicht aufgeschnittene Pulsadern sondern eine kleiner Schnitt, den sich eine junge Frau beim Rasieren ihrer Beine zugefügt hat, ist die Ursache. Ein Spiel mit Verführung, Gewalt und Verletzung, also Themen, die es auch schon auf dem Debut gab. Dennoch unterscheidet sich das 2. Album auffallend vom Debut: klang der Erstling aggressiv, kratzig und so als würde man davon ein Stromschlag bekommen, so klingt der Nachfolger zwar immer noch bedrohlich aber vergleichsweise glatt und elegant.

Benutzten Suicide auf ihrem Debut mehr oder weniger improvisiertes Equipment, mit dem sie aber einen ganz eigenen Sound erzeugten, so scheinen Sie für die zweite Platte in state-of-the-art Technologie investiert zu haben. Produzent Ric Ocasek als Leader einer auch auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Pop Band und das professionelle Power Station Studio hinterlassen deutliche Spuren. Das liest sich fast so, als hätten Suicide – auf ihrem Erstling noch der Finger in der Wunde Nachkriegs-Amerikas – ihre Seele an den schnöden Mammon des Popbusiness verkauft.

“Diamonds, Fur Coat, Champagne /
Women, Cadillac, Cocaine / ”
(…)
Disco, Fast Action, My Dreams
Women, Fantasies, Temptations”

Das hört sich an wie ein Szene aus dem Studio 54, das allerdings 1980 vorläufig schließen musste, nachdem sein Beteiber wegen Steuerhinterziehung hinter Gitter gewandert war. Glamour, Hedonismus, Dekadenz, ein etwas anderes Bild des Amerikanischen Traumes, das Suicide hier in den für sie typischen monotonen patterns, aber in funkelndem Sound malen. Das hat eine kühle, glatte und anonyme Eleganz, die gleichzeitig anziehend und unnahbar wirkt. Und gerade das ist der Reiz dieses Albums: Einerseits gibt es diese künstlich wirkende technische Perfektion, andererseits brodelt unter dieser glatten Oberfläche etwas verführerisches und gefährliches. Bei Diamonds ist es die Lust am hemmungslosen Genuss, Touch Me klingt wie Musik für eine Strip Bar und Harlem zieht den Hörer mit Alan Vegas aberwitzigen und albtraumhaften vocals und Martin Revs brodelnden Synthesizern in den Sumpf von Drogen und Gewalt, der Harlem in den 70ern und 80ern wohl war.

“Big black city
Big black city
Harlem, Harlem, baby
Harlem, Harlem, baby
(…)
The kids ain’t dancing no more
The kids ain’t singing no more
The kids ain’t laughing no more
Harlem, Harlem, baby
Harlem, Harlem, baby”

Zu Shaddazz möchte ich dann aber wieder in einer Disco tanzen. I want to dance to Suicide!

Glamour, Erotik, Rausch, Dekadenz, Gewalt, Verzweiflung, das sind die Spannungsfelder, zwischen denen sich Suicides zweites Album bewegt. Es hat nicht mehr die ikonoklastische Wucht des Debuts. Aber gerade die Verschiebung vom Rohen zum Polierten geben dem Album einen ganz eigenen Charakter, der seinen besonderen Reiz ausmacht. Für mich ebenso wie das Debut ein klassisches Album.

Das zweite Album ist erst 1998 als Doppel-CD wiederveröffentlicht worden. Zusätzlich zum Originalalbum gibt es ein paar Xtra-Tracks (darunter die Single Dream Baby Dream) und frühe Probeaufnahmen von 1975, die Suicide in einem noch embyonalem Stadium zeigen. Aus Gründen, die meine Vorstellungskraft übersteigen, hat man für die CD-Reissue das tolle Originalcover leider durch ein Foto von Alan Vega und Marin Rev ersetzt.

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)