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NorbertDas ist plausibel. Vielen Dank, Friedrich!
Gerne!
Es wird langsam Zeit für etwas Musik. Aber vorher erzähle ich noch ein bisschen, wie es Suicide in der Zeit zwischen ihrem ersten Auftritt 1970 und ihrem ersten Album 1977 erging. Eine lange Zeit. (Übrigens kann man das Buch No Compromise doch nur bis etwa Seite 50 im Netz lesen. Ich muss mich daher auf andere Quellen verlassen)
Die Besetzung mit Alan Vega (voc.), Paul Liebgott (git.) und Martin Rev (dr.) hat nur kurze Zeit Bestand. Suicides endgültige Besetzung ist schon bald Alan Vega (voice) und Martin Rev (electronics). Electronics ist aber zunächst nur so zu verstehen, dass Martin Rev eine elektrische Farfisa Orgel spielt und mit ein paar Effektgeräten hantiert. Erst im Jahr 1975 können sich Suicide eine billige Rhythmus-Maschine leisten. Der Sound des Duos ist auch deutlich von diesem no budget-Prinzip geprägt. Ob das mit Absicht geschieht, oder der notorischen finanziellen Misere der beiden Musiker geschuldet ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Jedenfalls entwickeln Suicide mit diesen bescheidenen Mitteln einen absolut eigenen Sound, der sie von allem, was musikalisch um sie herum geschieht, unterscheidet. Es gibt einige Aufnahmen von Proben aus dem Jahr 1975 (veröffentlicht mit der CD-Re-Issue ihres 2. Albums), auf denen man schon skizzenhaft das hört, was später typisch für Suicide sein soll: simple repetetive Keyboard-Patterns, eine primitiv tuckernde Rhythmusmaschine und darüber Alan Vegas zischende, flüsternde, kreischende Stimme. Das ganze mit ordentlich Hall und Echo-Effekten versehen und übersteuert, dass es klingt als käme es direkt aus den tiefsten Katakomben von New York.
Suicide treten von 1970 -77 mehr oder weniger regelmäßig auf, zunächst im Umfeld von Künstlerprojekten oder Gallerien, ab 1974 aber z.B. auch im ein Jahr zuvor eröffneten CBGB und in Max’s Kansas City. In der entstehenden Punk/NewWave Szene scheinen sie sich langsam zu etablieren: Sie treten gemeinsam mit den New York Dolls, The Cramps und The Ramones auf. Schon damals sind ihre Bühneshows berüchtigt, da das Publikum nicht nur von der Musik Suicides irritiert ist, sondern auch, weil Alan Vega das Publikum gezielt provoziert, wenn es sein muss, auch indem er mit einer Motorradkette um sich schlägt – und dabei fließt auch schon mal Blut. Im Jahr 1977 nimmt sich dann Marty Thau, der zuvor die New York Dolls gemanagt hatte, ihrer an und produziert für sein Red Star-Label ihr Debutalbum.

Suicide
1977
Alan Vega: voice
Martin Rev: electronics
Ein amerikanischer Albtraum: Ein leicht zerfledderter Wiedergänger des kurz zuvor verstorbenen Elvis hat sich mit einem verrückten Wissenschaftler verbündet und zeichnet ein gespenstisches Bild Amerikas, das es selbst am liebsten nicht sehen würde. Das erste Stück Ghost Rider klingt wie ein in einer Zeitschleife hängen gebliebenes, auf einem billigen elektrischen Keyboard gespieltes Chuck Berry-Riff. Doch das hat nichts vom jugendlichen Optimismus des Rock’n’Roll:
“Ghostrider motorcycle hero
be-be-be-be-be-be-be he’s a-screaming the truth
America, America is killing its youth”
Die Stimmung bessert sich auch auf dem zweiten Stück nicht:
“Rocket Rocket USA
Shooting on down the Highway
(…)
Whole country’s doing a fix
It’s doomsday doomsday”
Alan Vega murmelt, ächzt, stöhnt und zischt und Martin Rev benutzt die Farfisa und die Rhythmusbox so, wie es vom Hersteller in der Gebrauchsanleitung gerade nicht empfohlen wird. Das klingt monoton, kalt, apokalyptisch – und hypnotisch und elektrisierend. Cheree und Girl sind dagegen fast schon versöhnliche erotische Fantasien, bei denen einem aber auch schon wieder der kalte Schweiß ausbricht (“My black leather lady / My comic book fantasy / Come play with me”). Aber das alles ist noch gar nichts gegen den Höllentrip von Frankie Teardrop: Die Geschichte von “20-year old Frankie”, der es nicht mehr schafft die Nase über Wasser zu halten und dem Schrecken ohne Ende ein Ende mit Schrecken vorzieht. Martin Revs electronics wummern und brummen bedrohlich und Alan Vegas Schreie gehen einem durch Mark und Bein. Nervenzerreißend! Che ist abschließend die ernüchternde Demontage des Mythos vom Heiligen Che Guevara.
Alles ist auf Kürzel reduziert: Martin Revs musikalische Patterns wiederholen sich minutenlang, oft über die gesamte Länge eines Stücks, es schwillt höchstens mal etwas an oder ab, hier und da wird ein zweites Pattern oder ein kleines melodisches Kürzel darübergelegt, der Hall-Regler wird hoch und runter geschoben und ein paar Echos erzeugt. Erstaunlich, wenn man weiß, dass MR ursprünglich vom Jazz kommt, hier aber so reduziert spielt. Das ist ebenso einfach wie wirkungsvoll. Die perfekte Ergänzung dazu ist Alan Vega. Auch er reduziert sein Vokabular auf verbale Images, ebenso klischeehaft wie treffend, scheinbar vertraut und doch irritierend. Und dass er seine Idole von Elvis über Lou Reed bis zu Iggy Pop verinnerlicht hat, kann und will er auch nicht verbergen.
Suicides Debut ist eine ebenso absolut originelle wie stimmige Platte, die die Krise des amerikanischen Traums illustriert und dabei mit den uramerikanischen Mythen und den Bildern der Pop-Ikonographie spielt, unheimlich und faszinierend zugleich: Rock’n’Roll, Motorcycle hero, Rocket USA, My comic book fantasy und Frankie’s got a gun … Es ist ebenso erstaunlich wie beeindruckend, dass Suicide hier etwas schaffen, dessen Einflüsse zwar durchaus auszumachen sind, das aber keine direkten Vorbilder hat und zu jener Zeit auch keine Parallelen. Proto-Synth Pop? Prä-Industrial? Musikalisch nicht kartographiertes Gebiet. Begriffe hat man dafür erst später gefunden.
Ein Klassiker nicht nur der späten 70er.
(Die CD-Re-Issue von 1998 ergänzt die Original-LP um ein paar Outtakes und Remixes (darunter ein Stück mit Titel Keep Your Dreams, dass in wenig veränderter Form später noch mal als Dream Baby Dream auftauchen sollte) und eine zweite CD mit einer Live-Aufnahme aus dem CBGB von 1977 und 23 Minutes Over Brussels, der berüchtigten Live-Aufnahme von Suicide als Support von Elvis Costello, bei dem Alan Vega und Martin Rev vom Publikum von der Bühne geprügelt wurden.)
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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)