Re: Tocotronic – Wie wir leben wollen

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ragged-glory

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Als jemand, dessen Körper sich erbitterte Schlachten mit einem Grippevirus liefert, während der Geist gleichzeitig versucht, sich auf diese Zeilen zu konzentrieren, kann ich Dirk von Lowtzows Wort vom „Wesen, von dem uns Abgründe trennen“ ziemlich gut verstehen: Der Körper, das ist dieser Fremde, mit dem wir kaum in der Lage sind, selbst Kontakt aufzunehmen, der aber immer öfter und vehementer Kontakt zu uns aufnimmt, je älter – und fragiler, gebrechlicher – wir werden. „Die Revolte ist in mir“ heißt dieser Umstand in einem der neuen Tocotronic-Songs.

Um Körper und um Befreiung gehe es auf „Wie wir leben wollen“, dem zehnten Album im 20. Jubiläumsjahr der Band, sagt von Lowtzow im Erklärtext zur Platte – und schlägt einen Bogen zum „K.O.O.K.“-Album von 1999, das einst ebenso „eine Schwelle im eigenen Kosmos“ markierte. Nach vollendeter Auslotung der eigenen Virtuosität mit der Berlin-Trilogie steht die Band nun also erneut vor einem Paradigmenwechsel und demonstriert dies mit hinreichend bekannter Opulenz (Doppelalbum, über eine Stunde Spielzeit) und Gewichtigkeit (99 Thesen zum Album, Info-Overkill zur analogen Aufahmetechnik mit Vierspur-Equipment aus den Sechzigern, etc.).

Davon (und von der ewigen Verkünstelung, der Manieriertheit, dem angestrengt Anti-Modernen, dem Schnöselhaften) kann man, wie mancher Kollege, rechtschaffen genervt sein, und sich einmal mehr die Frage stellen, warum eine Band wie Tocotronic eigentlich so wichtig im deutschen Pop-Diskurs werden und bleiben konnte. Die Antwort liegt auf der Hand: Es gibt, mit Ausnahme vielleicht von Kante, keine andere Band, die es besser versteht, die Angst des Bildungsbürgers vor dem animalischen Rock-Gestus mit Intellektualität und Schöngeist zu lindern – und gleichzeitig der streng narzisstischen Nabelschau ihres Klientels immer einen Schritt voraus zu sein:

Es geht nie darum, wie die Welt beschaffen ist, nur darum, wie ich mich zu ihr positioniere und wie ich mich dabei fühle. Insofern sind Tocotronic wie die Grünen, indem sie von der Sponti-Haftigkeit der wilden ersten Slogan-Jahre über die Phase des ehrlichen, handwerklich orientierten Muckertums nun gemeinsam mit ihrer Wählerschaft in einem Zustand kleinbürgerlicher Erschöpfung angekommen sind. Und damit natürlich auch gleich wieder hadern, sich zerquälen: Was sollte das jetzt alles? Wer bin ich geworden? Was ist greifbar geblieben? Viele Metaphern auf „Wie wir leben wollen“ handeln vom Eintauchen, ob unter die Erde („Pfad der Dämmerung“) oder unter Wasser („Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools“), in die Behaglichkeit des sozialen Wohnungsbaus („Warm und Grau“), unter den Sand oder in den Keller, wo schon die „Version“ wartet, „die mich ersetzt“.

2013 wollen Tocotronic Teil einer Stofflichkeit sein, so scheint es. Sie wollen den beeindruckenden Bedeutungs- und Resonanzraum, den sie vor allem im vergangenen Jahrzehnt um sich herum geschaffen haben, erforschen, erriechen, haptisch erfahrbar machen. Und gehen an diese Aufgabe mit den vielleicht besten Songs und der dichtesten, wirkmächtigsten Musik, die sie bisher geschaffen haben. Die Existenzangst, die bei Tocotronic immer mitschwang, hat jetzt auch den Körper erreicht. Gesundheit!

(9.5) Andreas Borcholte

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