Re: Jürgen Teipel – Verschwende Deine Jugend

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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otisBemerkenswert, dass das Buch wieder aufgelegt wurde. Heikel aber auch, da es einer Überhöhung Vorschub leistet. Die Punk-Seite der NdW war ja soo toll auch nicht /der Rest erst recht nicht. Die Dämlichkeit des KFC war damals schon grauenerregend. Das kann man nicht schönreden, da hätte Teipel ruhig weglassen können, nein, müssen.
Ansonsten ist das eine ganz aufschlussreiche Oral History.

Ja, genau das ist es: eine mündliche Überlieferung mit allen Fakten, Mythen, Gedächtnislücken und Widersprüchen. Der KFC war wahrscheinlich eine eigentlich vernachlässigenswerte Erscheinung, zumindest was die Musik betraf, die Auftritte waren aber wohl schockierend. Und man liest davon mit offenem Mund und gesträubtem Nackenhaar.

otisAber was ist heute noch übrig von allem?
Das Günstigste, was mir heute über Zeit und Musik einfällt, ist, dass sie für mich wesentlich spannender waren als der Krautrock zuvor, aber kaum wesentlicher.
Apropos: Ich las dieser Tage eine alte Review von Punk-Papst Hilsberg über London Calling. Peinlich daneben. Der Mann wollte Deutschland mit guter Musik versorgen.

„‚London Calling‘ ist ein erschreckend müder Aufguss einer Band, die vorgab, Nummer 1 des Punk zu sein. Mit ihrem Supermarktangebot haben sie sich selbst das Grab geschaufelt. Fasele mir bitte keiner was von musikalischer Innovation. Hier dreht sich nix weiter auf dem Plattenteller als ein mittelmässig produzierter Rock’n’Roll.“ Alfred Hilsberg in der SOUNDS 1/1980

Hahahaha!

Alfred Hilsberg hat nach dem erklärtem Motto „Lieber zuviel als zuwenig“ Platten auf den Markt geworfen. Er war von der überbordenden Lebendigkeit dieser Szene fasziniert und hat ihr die Plattform geboten, die sie wollte. Er war ja eigentlich Journalist und hat am Hype auch selbst mitgewirkt. So schrieb er für die SOUNDS und die war eine Weile lang so etwas wie die Hauspostille der Szene. Das kommt in VDJ meines Erachtens aber etwas zu kurz, denn aus heutiger Sicht betrachtet war das fast so etwas wie der Versuch eines Perpetuum Mobile, was natürlich nicht auf Dauer funktionieren kann. Alfred Hilsberg hatte aber keine Ahnung vom Plattengeschäft. So hat er neue Platten mit den Einnahmen der alten Platten finanziert (Steuern, Rücklagen? Wozu?) bis dieses Quasi-Pyramidenspiel kollabiert ist. Dieser journalistische Hype gekoppelt mit wirtschaftlichen Dilletantismus war sicher einer der Sargnägel der Szene.

Was ist davon geblieben? Zunächst eine aufregende Erinnerung und vielleicht kann man von Popmusik manchmal auch nicht mehr verlangen.

Ich denke es ist aber durchaus noch mehr davon übrig geblieben. Was war deutschsprachige Popmusik denn Mitte der 70er? Vor allem Schlager! Leute wie meinetwegen Udo Lindenberg oder Ton Steine Scherben waren doch eher die Ausnahme von der Regel. Popmusik abseits davon wurde vor allem aus GB und USA importiert und Krautrock à la Can oder Kraftwerk galt in GB mehr als im heimischen Land. Deutscher Punk/New Wave hat nicht nur deutschsprachige Popmusik etabliert und marktfähig gemacht. Gäbe es ohne diese Welle heute Pop von den Humpes, eine regelmäßige Radiosendung von und mit Gudrun Gut, Thomas Fehlmann als DJ, Produzent und Labelbetreiber oder die Einstürzenden Neubauten, die ja vom Goethe-Institut als deutsches Kulturgut um den Globus geschickt wurden? Ich kann die ja nicht ausstehen, aber was ist Rammstein denn überhaupt? Wirf falsch verstandene Neubauten und DAF in einen Topf, gib noch ein paar prollige Metal-Klischees hinzu und fertig ist die Suppe! Was ist mit den Toten Hosen und ihrem intelligenten Pendant Goldene Zitronen? Deutscher Punk/New Wave hat eine Do-It-yourself-Attidüde etabliert, die viele Nachahmer fand, er hat vermutlich Bands wie Blumfeld (übrigens auf Hilsbergs ZickZack-Label erschienen), Tocotronic etc. ermutigt. Platten wie Fehlfarbens Monarchie und Alltag und DAFs Alles Ist Gut sind bis heute enorm einflussreich. Es ist halt ein Jammer, dass die damaligen Bands eigentlich mit ihrem Erfolg selbst nicht sinnvoll umgehen konnten. Ob bei den Fehlfarben und Palais Schaumburg nach dem Debut der Sänger aussteigt, ob DAF sich nach ihrem kommerziellen Durchbruch in ihrer Zweierkiste nur noch um sich selbst drehten, auch das waren Sargnägel, die sich die Szene selbst schmiedete. Und dass das Musikbusiness nicht in der Lage oder Willens war, Leute wie Andreas Dorau dauerhaft zu etablieren, sondern lieber auf Markus, Fräulein Menke und Hubert Kah setzte, ist ein Armutszeugnis. Das war dann wieder Schlager!

Deutscher Punk/New Wave hat Pionierarbeit geleistet. Leider hat es die Pioniere selbst dabei zerfetzt.

Und abschließend will ich auch noch mal das Publikum beschimpfen: In GB kamen die Sex Pistols und The Clash in die Charts. In GB erfanden Kraftwerk-Fans den Elektropop und stürmten die Charts, aber in D gab es fast Schlägereien, wenn man auf Parties DAF auflegte. Schade!

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)